Wollen wir wirklich zurück zur Natur?


Wenn der moderne Mensch sagt: Zurück zur Natur! - dann will er meist in einen Garten und nicht in den Dschungel. Man müßte ihm auch seine in der Menschheitsentwicklung mühsam erworbene Vernunft absprechen, wenn es anders wäre.
Dennoch vergleichen heutige Naturapostel uns zivilisierte Wohlstandsbürger mit den Urmenschen, und sie werden dann nicht müde festzustellen, daß unsere Instinkte degeneriert und unsere Abwehrkräfte geschwächt seien. Kein Wunder, so meinen die modernen Heilsbringer, daß deshalb die meisten Menschen mit 70, 80 Jahren an allerhand Krankheiten sterben. Denn weichlich wie wir sind, braten wir das Fleisch und kochen das Gemüse, anstatt es roh zu essen; wir verzichten nicht auf zuckerhaltige Desserts, sitzen in bequemen Sesseln und fahren mit dem Auto durch den Regen, anstatt uns die Herbststürme ins harte Antlitz peitschen zu lassen. Das angenehme Leben mag uns in der Tat nicht immer bekommen - das Gegenteil, das wird merkwürdigerweise oft vergessen, bekommt uns aber auch nicht.
Auch haben sich die Vorstellungen, was dem Menschen "natürlich" ist, im Laufe der Geschichte sehr verändert, und es ist nicht einzusehen, warum nach den heutigen Vorstellungen von dem, was "natürlich" ist, nicht wieder andere folgen sollten. Doch egal, wie unnatürlich und schrecklich unsere Umwelt auch immer sein mag: Tatsache ist, daß noch nie so viele Menschen so gesund waren, so alt geworden sind und soviel Zeit für unnütze Gedanken hatten wie im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Der erste Neandertaler, dessen Skelett man vollständig gefunden hat, dürfte wohl sein ganzes Leben in einer Weise verbracht haben, die wir "natürlich" nennen. Er muß mit etwa 60 Jahren gestorben sein, war für die damalige Zeit also uralt. Er hatte eine schwere Arthrose, so daß er Mühe gehabt haben dürfte, sich zu bewegen, geschweige denn zu jagen und zu sammeln. Ob er letzten Endes verhungert ist, sieht man den alten Knochen nicht an. Im Kontrast dazu beschäftigen wir uns heute bekanntlich intensiv mit Schlankheitsdiäten, so auch mit der sogenannten Punkte-Diät, zu der wörtlich geschrieben steht: "Hummer und Kaviar dürfen Sie essen, so viel Sie wollen, sogar eine ganze Flasche Champagner (trocken) sei Ihnen gestattet". Diese Aussage klingt zwar auch für heutige Verhältnisse etwas üppig, aber sie charakterisiert doch unsere Zeit: Erlaubt ist, was schmeckt - sofern man Geld hat, es zu kaufen. Ist das unnatürlich?
In Mitteleuropa ringt heute niemand mehr mit der Natur um sein Überleben! Wer hätte auch Lust dazu? Viel lieber kämpfen wir um unser täglich Fleisch und Alkohol, um Geld und Freizeit, um Bestätigung im Beruf und Eigenständigkeit. Sind wir insofern nicht ganz gern (verglichen mit Mammutjägern) degeneriert und lebensuntüchtig? Die Zivilisation bringt ihre eigenen Probleme mit sich, das ist wahr. Doch wer möchte tauschen etwa mit einem Bauern des Mittelalters, der "gesund" lebte mit seinem alltäglichen Körnerbrei, den er ungesalzen und ungezuckert essen mußte? Die Bauern damals hatten auch viel Bewegung - auf dem Feld, jahraus, jahrein, nur sonntags nicht.
Früher war die Mehrzahl der Menschen selbst ein Stück Natur - und nicht mehr! Das Motto der Moderne aber lautet anders. Es drückt sich aus im Titel der Memoiren der Schauspielerin Katharine Hepburn; der Titel besteht aus einem einzigen Wort: "Ich". Und dieses Motto setzt sich fort im Titel der Erinnerungen des Schauspielers Peter Ustinov: "Ich und Ich". "Ich, ich, ich!" - das ist der Kampfruf unserer Zeit. Ist das unnatürlich? Oder ist das schon wieder allzu natürlich?
Seien wir doch ehrlich: Zurück zur Natur will kein Mensch mehr! Es scheint aber zu unserem Wesen zu gehören, daß wir nach einem Zustand streben, in dem wir uns im Einklang empfinden mit der Natur. So wie es aussieht, erreichen wir diese innere Harmonie nur, wenn wir sehr, sehr alt werden . Professor Franke schreibt, nachdem er mit hunderten über 100jähriger gesprochen hatte, und zitiert einen Schweizer Kollegen: "Die Gemütsstruktur vieler rüstiger Menschen an der obersten Schwelle der Lebensmöglichkeit zeigt mitunter Züge einer Losgelöstheit von aller Erdenbürde. Der Schweizer Obrecht hat diese Geisteshaltung der Uralten folgendermaßen beschrieben: "Von Mal zu Mal stand ich im Banne dieser unbeirrbaren Frohmütigkeit und Abgeklärtheit, dieser für den Beschauer irgendwie beschämend wirkenden Bescheidenheit, Dankbarkeit, Demut und Ergebenheit in eine gütige Vorsehung". -
Braucht ein Mensch 100 Jahre, um sich zu vollenden?


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