Einleitung


Im Jahre 1869 hielt Professor Friedrich von Esmarch, Chirurg an der Universitätsklinik Kiel, einen Vortrag „Über den Kampf der Humanität gegen die Schrecken des Krieges”. Professor von Esmarch sprach über die Gründung sogenannter „Genfer Vereine”; das waren Hilfsorganisationen des Roten Kreuzes für den Kriegsfall und die Vorläufer der späteren militärischen Sanitätseinrichtungen. Er begann seine Ausführungen mit den Worten: „Wenn ich mir die Aufgabe gestellt habe, Ihre Aufmerksamkeit durch einen Vortrag über den Kampf der Humanität gegen den Schrecken des Krieges zu fesseln, so bin ich dabei keineswegs von der Ansicht ausgegangen, daß vielleicht in nächster Zeit schon der Ausbruch eines Krieges zu erwarten sei...” Der Chirurg sagte dies am Vorabend des Krieges gegen Frankreich von 1870/71.
Professor von Esmarch fuhr fort – und seine Äußerung zeigt, daß die Ärzte 1869 keineswegs kritiklos militärische Sanitätseinheiten zu schaffen gedachten: „Ehe ich aber auf den Zweck und die Tätigkeit dieser Vereine näher eingehe, halte ich es für notwendig, einigen Einwänden zu begegnen, von denen ich weiß, daß ein Teil meiner Zuhörer sie auf den Lippen haben würde, falls es sich hier um eine Debatte über diesen Gegenstand handelte. Oder sollte ich mich täuschen, wenn ich annehme, daß manche unter Ihnem denken: Was sollen doch diese Vereine für den Krieg schon im Frieden? Gibt es nicht im Frieden auch Unglückliche genug, welche unserer Hilfe bedürfen? Laßt doch die Regierungen, welche im Frieden Millionen ausgeben für die Verbesserungen der Mordwaffen, auch dafür sorgen, daß es den Verwundeten im Kriege an der nötigen Hilfe nicht fehle. Hochgeehrte Zuhörer! Es würde mir schwer fallen, alle diese Einwände zu widerlegen... Auch würden mit demselben Recht diejenigen ihre Anschauungen berücksichtigt zu sehen wünschen, welche denken und sagen, wozu nützt all dieses Gerede von freiwilliger und amtlicher Hilfe im Kriege, bildet doch lieber Vereine, welche dahin streben, daß überhaupt kein Krieg mehr ausbreche, dann werden ja alle solche Bestrebungen hinfällig sein. Auch diese würden recht behalten.”
Die Ärzte, die sich mit der Gründung erster Sanitätseinheiten für die Kriegsheere befaßten, waren sich des inneren Widerspruches zwischen ärztlicher Tätigkeit und der Teilnahme an einem Krieg also durchaus bewußt, doch dachten sie selbstverständlich vor einem ganz anderen geschichtlichen Hintergrund als die Ärzte des Atomzeitalters heute. Für die Gründer der „Genfer Vereine” hatte erst wenige Jahrzehnte zuvor eines der größten Kriegsereignisse des letzten Jahrhunderts stattgefunden: die Völkerschlacht bei Leipzig. 120 000 preußische und 80 000 russische Soldaten waren ohne die mindeste sanitätsärztliche Organisation in diese Schlacht gezogen. Einhundertausend Tote und Verwundete lagen nach drei Tagen auf dem Schlachtfeld, darunter 34 000 Schwerverwundete. Sie blieben medizinisch praktisch unversorgt, von der notdürftigen Hilfe der in Leipzig praktizierenden Ärzte abgesehen.
Diese medizinische Unterversorgung verwundeter Soldaten war für die Kriege bis weit in das 19. Jahrhundert hinein typisch. Kriege gab es trotzdem. Deshalb wurden die ersten militärisch gegliederten Sanitätseinheiten als Fortschritt der Humanität empfunden, obgleich – wie gesagt – der Keim des inneren Widerspruches zwischen Arzt- und Soldatsein mit angelegt war und von den Ärzten von Anfang an auch wahrgenommen wurde.
1935 schrieb der Oberstarzt und Direktor des Staatskrankenhauses der Landespolizei Berlin, Dr. Heinrich Schum, einen „Leitfaden für Studierende und Ärzte” mit dem Titel „Einführung in die Wehrchirurgie”. In seinem Vorwort setzte er sich ebenfalls mit der gewissermaßen tragischen Rolle des Arztes im Krieg auseinander. Auch Dr. Schum fühlte sich veranlaßt, den Sanitätsunterricht im Frieden für den Kriegsfall zu begründen. Er schreibt: „Niemand, der den Weltkrieg mit all seinem Grauen wirklich erlebt hat, wird eine Wiederholung des Völkermordens ersehnen, am wenigsten der Arzt, der nur die düsteren Schatten, die Opfer und Wunden sieht. Ihm winkt keine Freude über das erreichte Ziel, den errungenen Sieg, die der fechtenden Truppe stets frische Spannkraft verleiht. Der Kämpfer, die Waffe in der Hand, empfindet die furchtbaren Eindrücke des Krieges niemals in dem erschütternden Maße wie der Arzt und seine Gehilfen, die in mühsamer, entsagungsvoller Danaidenarbeit den einzelnen Menschen zu retten versuchen, während das Schlachtfeld immmer neue Hekatomben in seine Hände sendet.” Es dauerte nur vier Jahre bis wieder zerrissene und verelendete Menschen auf den Feld-Operationstischen der Ärzte lagen. Das Grauen der Ärzte vor dem, was sie im ersten Weltkrieg erleben mußten, änderte damals nichts am Gang der Geschichte.
Ebenso wenig änderten die verhältnismäßig freundschaftlichen Beziehungen der Ärzte verschiedener Nationen zueinander etwas am historischen Geschehen. Auf dem 10. Internationalen Kongreß für Militärmedizin und Militärpharmazie in Washington und New York trafen sich noch im Mai 1939 einhundertzwanzig Sanitätsoffiziere aus dreißig Ländern zum Gedankenaustausch. Auch eine deutsche Delegation mit sieben Mitgliedern war angereist. Der deutsche Delegationschef, der Heeres-Sanitätsinspekteur und Generaloberstabsarzt Professor Waldmann, wurde während des Kongresses Ehrenmitglied der Gesellschaft für Militärchirurgie der Vereinigten Staaten; der Präsident des Kongresses und Chef des Sanitätsdienstes der US-amerikanischen Streitkräfte, General Reynolds, war bereits im Februar 1939 zum Korrespondierenden Mitglied der Deutschen Militärärztlichen Gesellschaft ernannt worden. All dieser Ehrungen ungeachtet begann vier Monate später ein neuer Weltkrieg. Es war gleichgültig, wie die Ärzte damals dachten oder international zueinander standen. Die politisch-historischen Ereignisse gingen einfach über sie hinweg.
Niemand konnte sich auszumalen, was für Entsetzlichkeiten dieser neue – zweite – Weltkrieg für die Soldaten und nun auch für die Zivilbevölkerungen bereit hielt. Mehr denn je zeigte sich in diesem „Bewegungskrieg”, daß selbst eine noch so hoch entwickelte Sanitäts-Organisation in der rechtzeitigen Versorgung der Verwundeten oft versagte. Hinzu kam die Erfahrung des fast völligen Zusammenbruches ärztlicher Hilfeleistungen bei großen militärischen Katastrophen. Zum Dilemma der ärztlichen Tätigkeit im Krieg traten nach dem Ende dieses Krieges folglich neue Fragen: Ist medizinische Hilfe inmitten eines Infernos, dem der Arzt jederzeit selbst zum Opfer fallen kann, wirklich möglich – oder ist sie nur eine Farce? Wie häufig sind Situationen im Krieg, in denen der Arzt dem Zwang des Augenblicks mehr gehorchen muß als der inneren Verpflichtung für seine Patienten? Wo endet für Ärzte die Arglosigkeit, und wo beginnt tragische Schuld?
Diese Fragen trafen bald nach dem zweiten Weltkrieg allerdings auf eine Stimmungslage, die durch eine große Ernüchterung gekennzeichnet war. Hatten Sieger und Besiegte 1945 noch geglaubt, daß eine neue friedliche Epoche der Weltgeschichte beginne, mußten sie früh erkennen, daß das Gegenteil des Weltkrieges noch lange nicht der Weltfrieden war. Über 250 Kriege hat es seither gegeben. Rechnet man die Zeit, in der nirgends auf der Welt Krieg geführt wurde, zusammen, dann kommt man von 1945 bis heute auf knapp zwei Wochen Weltfrieden. Es bleibt also auch den heutigen Ärzten nicht erspart, ihre Rolle in dem offenbar nie enden wollenden Kriegsgeschehen unter den Menschen zu definieren: Sollen sie sich jeder Einbindung in militärische Operationen verweigern? Oder sollen sie im Gegenteil zu den Kriegen hingehen, gewissermaßen als letzte Rettungsanker der Menschlichkeit inmitten von Zerstörung und Haß? Wer stellt sich in all den Kriegen dem angstvollen oder flehenden Blick der Verwundeten, die an der Schwelle zum Tode stehen, und gibt Hoffnung, wenn nicht die Ärzte? Doch muß ein Arzt nicht verzweifeln angesichts des täglichen Elends, das ihn im Krieg umgibt?
Diesen Fragen und dem Problem der Rolle des Arztes im Krieg nachzugehen, ist das Anliegen dieses Buches. Ärzte selbst, die dabei waren, berichten. Aus vielen einzelnen Erzählungen entsteht schließlich ein Mosaik, das den Krieg zeigt aus der Sicht des Arztes. Es setzt sich dieses Mosaik zusammen aus Teilen eines „historischen” Stoffes: des Krieges zwischen dem dritten deutschen Reich und der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1945. Dieser Krieg wurde zur Anschauung gewählt, weil er der ungeheuerlichste aller Kriege in der Geschichte der Menschheit ist – und weil noch Menschen leben, die man dazu befragen kann: In nicht ganz vier Jahren wurden auf deutscher und russischer Seite insgesamt über 25 Millionen Menschen getötet und über hundert Millionen Menschen verletzt. Weit über zweihunderttausend Ärzte waren in dieses unglaublich grausame Ringen hineingezogen. Was liegt also näher, als einige der noch Lebenden zu fragen, wie sie die Zeit erlebt haben, und nach schriftlichen Zeugnissen zu suchen, in denen Ärzte ihre Erinnerungen an diesen Krieg aufgeschrieben haben? Es kommt so noch einmal eine Generation zu Wort, die es in zwanzig Jahren nicht mehr geben wird. Insofern ist dieses Buch nicht zuletzt eine historische Dokumentation.
Man hätte vielen der Fragen zum Arztsein im Krieg auch anhand eines „moderneren” Krieges nachgehen können, doch wären die Antworten die gleichen gewesen. Denn die Gründe und Auslöser mögen noch so verschieden sein, sind Kriege erst einmal im Gange, haben sie alle das gleiche Gesicht.


Zurück zum Buch
Zurück zur Bücherübersicht
Zurück zur Startseite