In den Sümpfen des Lowat und am Wolchow


Nicht nur in Leningrad, auch in den Sumpfgebieten bei Staraja Russa wurde die Leidensfähigkeit der russischen Menschen hart geprüft, denn das russische Oberkommando wollte in diesem Gebiet einen Durchbruch durch die deutsche Front erzwingen.
Südlich des Ilmensees liegen der Waldai-Hügel und die Städte Staraja Russa und Demjansk. Gegen dieses Frontgebiet rannten Anfang des Jahres 1942 die russische 11., 34. und 53. Armee sowie die 3. und 4. Stoßarmee an. Sechs deutsche Divisionen mit insgesamt etwa hunderttausend Soldaten wurden bei Demjansk eingeschlossen und – wie später in Stalingrad – aus der Luft versorgt. Es klappte. Die deutschen Transportflugzeuge flogen 65 000 Tonnen Güter in den Kessel und etwa 35 000 Verwundete heraus. Und am 21. April 1942 wurde der russische Einschließungsring von außen wieder aufgesprengt.
Kurz nachdem die deutschen Divisionen am 8. Februar 1942 eingeschlossen worden waren, gab der kommandierende General im Kessel, Graf Brockdorff-Ahlefeldt, einen Tagesbefehl an die eingeschlossenen Truppen heraus, unter anderem mit folgendem Wortlaut: „Der Gegner hat sich in den kältesten Wintermonaten über das Eis des Ilmensees, das sonst sumpfige Delta des Lowat und durch die flachen Täler der Pola... zwischen das II. Korps und seine rückwärtigen Verbindungen geschoben. Diese Flußtäler gehören zu einem großen Niederungs- und Sumpfgebiet, das mit Beginn der Eis- und Schneeschmelze durch Überschwemmung und Versumpfung unwegsam, überhaupt ungangbar wird. Ein Verkehr, insbesondere ein umfangreicher Nachschubverkehr des Gegners, ist dann völlig ausgeschlossen... Es ist daher ausgeschlossen, daß der Russe mit seinen zahlreichen Soldaten im Frühjahr ohne Nachschub in dem nassen Niederungsland aushalten kann.” Die russische Ärztin Dr. Nadeschda Matweewna Ozep war das ganze Jahr über in diesem „ungangbaren” Sumpfgebiet stationiert. Sie gibt eine eindrückliche Schilderung davon, welchen Bedrängnissen die russischen Soldaten in diesem Frontabschnitt ausgesetzt waren.
„Ich mußte bei den Erschießungen zusehen.”
Die Gegend von Staraja Russa und des Waldai ist bekannt für ihre tiefen Sümpfe. Und meine Truppe wurde mitten in diesen Sümpfen stationiert. Die Hauptkampflinie der Deutschen lag etwa vierzig Meter vor unserer Frontlinie. Die Situation war auf beiden Seiten die gleiche: die Russen hatten keine Munition und kein Essen, und die Deutschen hatten keine Munition und kein Essen. Und weil sich die Soldaten so nah gegenüberlagen, riefen sie sich manchmal gegenseitig etwas zu. Einmal hat ein Deutscher herübergerufen: „Kommt raus! Es juckt uns. Laßt uns einander kratzen!”
Es ist kaum zu glauben, aber unsere Leute haben tatsächlich kaum Waffen gehabt. Ich hatte auch keine kriegschirurgische Ausrüstung. Wir legten unsere Verwundeten einfach auf die Erde, und der Schnee bedeckte sie. An einen Abtransport war kaum zu denken. Es war schrecklich. Wir waren so schlecht auf den Krieg vorbereitet, daß wir in der ersten Zeit praktisch nichts hatten. Erst später kam Hilfe von Amerika. Die zweite Front im Westen wurde zwar nicht eröffnet, aber die Hilfe war da. Sie haben Hilfsgüter, Lebensmittel und Zelte geschickt.
Es gab aber noch eine Ursache, warum wir so schlecht ausgerüstet waren: Der General, der an der Spitze dieser Front stand, ein Kavallerist und Freund von Marschall Budjonny, war noch ein Held des Bürgerkrieges. Und er war praktisch ein Partisan. Er bezeichnete seine Truppen als Partisanen, die einen Krieg anders zu führen hätten als die reguläre Armee. Aufgrund dieser Vorstellungen sind dort viele russische Soldaten ums Leben gekommen. Wenn die Leute morgens aus den Zelten kamen und sich waschen wollten, wurden sie von deutschen Tieffliegern einfach abgeschossen. Das war damals eine absolute Hilflosigkeit an dieser Nordwestfront. Erst als schließlich fast die ganze Division umgekommen war, wurde dieser General verhaftet und nach Moskau gebracht.
Man hat dann einen anderen Kommandeur geschickt: General Saijuljew. Und man schickte einen Polit-Offizier: Oberst Juschkin. Er war 1937 im Rahmen der Prozesse damals gegen hohe Militärs verhaftet und zum Tode verurteilt worden. Das Todesurteil wurde dann in eine lebenslange Strafe umgewandelt, und 1941 ist er zur Armee eingezogen und zum Polit-Offizier gemacht worden. 1942 stand er im Gegensatz zu dem neuen Divisions-Kommandeur Saijuljew, der ein richtiger Sadist war. Ich glaube, General Saijuljew genoß es, seine eigenen Leute erschießen zu lassen.
Für eine Zeitlang hat man auf den Befehl Stalins hin Sperrbataillone geschaffen. Ich habe nie etwas über diese Sperrbataillone an der Nordwestfront gelesen. Ihre Aufgabe bestand darin, aufzupassen, daß alle Soldaten beim Angriff nach vorne gingen. Wenn jemand unter dem Beschuß einfach am Boden liegen blieb und nicht weiter vorwärts stürmte, dann wurde er von den Soldaten und Offizieren dieser Bataillone festgenommen, egal ob er alt oder jung war.
Diese Bataillone waren mit Smersch-Leuten zusammengesetzt, einer dem NKWD entsprechenden Organisation. Smersch ist eine Abkürzung und heißt: Tod den Spionen! In den Kampfpausen mußten sich die Festgenommenen selbst ein Grab schaufeln. Dann mußten sie sich ausziehen und sich an den Rand des Grabes stellen. Die Kommandeure dieser Bataillone haben selbst die Anklage geschrieben und die Leute erschossen. General Saijuljew hat sich daran beteiligt.
Die Soldaten in diesem Frontabschnitt waren schon etwas älter, knapp über dreißig Jahre vielleicht. Sie hatten schon ein wenig gelebt, waren Familienväter und hatten Kinder. Diese Menschen hatten mehr zu verlieren als wir Jungen. Für die jungen Leute war es leichter; sie stürmten von sich aus schon nach vorne. Wenn man jung ist, hat man weniger Angst.
Das allerschlimmste war, daß ich als Regimentsarzt feststellen mußte, ob die Erschossenen auch wirklich tot waren. Ich mußte bei den Erschießungen zusehen und danach in das Grab steigen, um die Hingerichteten zu untersuchen. Das war schrecklich für mich. Ich hielt das nicht sehr lange aus und wollte nicht mehr weiterleben. Deshalb habe ich mir eines Tages zwanzig Kubik Morphium gespritzt, weil ich sterben wollte. Aber ich starb nicht. Ich wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo ich mich wieder erholte.
An dieser Nordwestfront habe ich auch gesehen, was diese Smersch-Offiziere und dieser Saijuljew mit Kollaborateuren machten, wenn sie in ihre Hände fielen. Ohne jede Verhandlung, ja ohne auch nur festzustellen, was diese Menschen wirklich gemacht haben, wurden sie aufgehängt.
Ich habe noch das ganze Jahr 1942 in diesen Sümpfen verbracht. Es war dort ein langer Stellungskrieg. Das Gebiet um Staraja Russa war der am wenigsten erfolgreiche Abschnitt der ganzen Front. Wir haben sogar selbst Witze darüber gemacht: Wenn die Leute nach dem Krieg an den Zigaretten-Kiosken Schlange stehen, müßten wir uns immer wieder ganz hinten anstellen, weil wir an der Nordwestfront so schlecht gekämpft hatten. Und doch waren sehr viele Soldaten gefallen. Ein Fluß dort hieß Pola. Als er auftaute, war er voller Leichen.


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