Zur Situation der Ärzte im Krieg
Der Arzt in der Krise


Selten wird von Ärzten, die den Krieg erlebten, erzählt, daß sie in eine persönliche Krise geraten seien, sei es angesichts eines Unrechtes oder wegen des gesammelten Elends, mit dem sie ständig zu tun hatten. Das ist umso bemerkenswerter, als sie ja von Berufs wegen mit einer Seite des Krieges beschäftigt waren, die zu beschönigen kaum möglich war.
In der Tat gibt es eine Statistik aus dem ersten Weltkrieg, nach der von 24 798 Ärzten, die in den vier Jahren und vier Monaten dieses Krieges eingesetzt waren, 1720 Ärzte ums Leben gekommen und davon wiederum 71 durch Selbstmord gestorben sind. Im ersten Weltkrieg begingen damit deutschen Militärärzte relativ häufiger Selbstmord als die Angehörigen anderer Truppenteile. Es besteht Grund zu der Annahme, daß dies mit ihrer Arbeit zusammenhing. Aus dem zweiten Weltkrieg gibt es keine vergleichbare Statistik.
Die Frage, wie die Ärzte im Krieg ihre schwere Arbeit überhaupt aushalten konnten, wird wohl unbeantwortet bleiben. Ein verstehender Zugang ist heutigen Psychologen von Alter, Ausbildung und Interessen-Schwerpunkten her in der Regel verwehrt. Historiker wiederum stellen Tatsachen fest und richten ihren Blick weniger auf ein psychologisches Verständnis einzelner Menschen oder Gruppen. So bleibt nur, Erzählungen von Ärzten, die eine Krise erlebten, wiederzugeben und für sich selbst sprechen zu lassen. Frau Dr. Nadeschda Ozep, die allerdings in einer ganz besonders belastenden Situation stand, indem sie zu Exekutierten in die Gräber hinabsteigen mußte, um ihren Tod festzustellen, wollte sich das Leben nehmen. Solche schweren seelischen Reaktionen scheinen im zweiten Weltkrieg aber wohl doch selten gewesen zu sein. Häufiger waren Gefühle der Ausweglosigkeit und der Verzweiflung, die aber so gut wie nie zum Ausdruck gebracht wurden. Das galt als Schwäche.
“Herr Oberst... es ist Weihnachten, und ich bin völlig am Ende.”
Dr. Heinrich Haape, Truppenarzt bei der 6. Infanterie-Division, geriet im Winter 1941 auf 1942 in eine, wenn auch nur kurzdauernde, seelische Krise. Vor allem Erschöpfung und seelische Anspannung führten bei ihm zu der “Schwäche”. In diesem Winterkrieg bekam Dr. Haape für die Verteidigung seines Verbandplatzes im Nahkampf gegen durchgebrochene russische Panzer das Deutsche Kreuz in Gold verliehen, trotzdem geriet auch “Haltepunkt” – so sein Spitzname bei seiner Einheit – ganz unvermittelt aus der Fassung. Die Krise wurde ausgelöst, nachdem er mit seinen Sanitätern Heinrich und Müller Verwundete versorgt hatte und zum Regimentsgefechtstand gegangen war. Es war Weihnachten 1941. Dr. Haape beschreibt die Episode in seinem Buch:
Ich fühle mich erschöpft bis an den Rand des Zusammenbruchs. Mir schien es unmöglich, mit diesen Anstrengungen, der bitteren Kälte, dem Schnee, dem täglichen Anblick von Schmerz und Blut, dem Verlust von Freunden noch länger fertig zu werden. Ich war müde geworden, anderen ein Beispiel geben zu müssen. Ich wollte nicht mehr so tun, als ob ich stets mutig, unerschütterlich und allen Anforderungen gewachsen sei. Ich wollte mich einmal richtig ausruhen und wenigstens eine Nacht durchschlafen, ohne Angst haben zu müssen. Nur eine Nacht ungestörter Schlaf, dachte ich, und ich würde wieder mein altes Selbst sein! Aber ich wußte, daß dies unmöglich war. Es blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen oder zu sterben.
“Kommt, Männer!” sagte ich. “Wir haben lange genug gewartet und verlieren zuviel Wärme!” Ohne Zwischenfall marschierten wir zum nächsten Dorf, wo sich der Regimentsgefechtsstand befand. Im ersten Hause verbanden wir den in der Hüfte getroffenen Soldaten. Ich zog meine Karte hervor, suchte Terpilowo und zeigte Müller den Weg. “Dort finden Sie den Hauptverbandplatz!” erklärte ich. “Sobald Sie und die anderen sich aufgewärmt haben, fahren Sie bitte weiter und melden sich mit der Kolonne bei Oberstabsarzt Schulz!” Die Männer blieben noch eine Weile in der warmen Stube, während Heinrich und ich müde zum Regimentsgefechtstand hinübergingen. Wir fanden das Haus und traten ein.
Oberst Becker und Oberleutnant von Kalckreuth saßen neben einem Weihnachtsbaum am Feuerplatz und tranken Kaffee. Es war ein friedliches Bild: der schöne Baum, an dem ungefähr ein Dutzend Kerzen brannten, und die beiden Männer mit ihren Kaffeetassen. Ich starrte sie einen Augenblick an. Dann riß ich mich zusammen und meldete, die Verwundetenkolonne sei auf dem Wege nach Terpilowo und Sanitätsgefreiter Appelbaum und ich würden uns nun zur Front zurückbegeben.
“Nun, Haltepunkt!” sagte Becker, “setzen Sie sich erst mal und trinken Sie eine Tasse Kaffee! Das wird Ihnen gut tun! Sie sehen aus, als hätten Sie es nötig!” Da geriet ich vollständig außer Fassung. Alle in letzter Zeit unterdrückten Gefühle brachen plötzlich hervor. Es hatte nur einer Kleinigkeit bedurft – den strahlenden Weihnachtsbaum und Beckers freundliche Worte – um die Schleusen zu öffnen. “Herr Oberst”, hörte ich mich selbst sagen, “es ist Weihnachten, und ich bin völlig am Ende... Ich weiß nicht, was ich sagen soll... Das ganze Elend... Keinen Moment Ruhe, Tag und Nacht... Ich kann nicht mehr...”
Jede Selbstkontrolle hatte mich verlassen. Tränen standen mir in den Augen. Am liebsten hätte ich geweint wie ein Kind. Verlegen nahm ich eine Tasse, wandte mich ab und trank einen Schluck. Der Kaffee war brühend heiß, und ich verbrannte Mund und Kehle. Aber es tat gut und gab mir eine Art Entschuldigung für die unmännlichen Tränen. Schließlich gewann ich meine Fassung wieder. Becker und von Kalkreuth hatten von meinem Ausbruch keine Notiz genommen und alles wortlos über sich ergehen lassen. Eine halbe Stunde lang unterhielten wir uns noch nett am warmen Ofen. Dann holte ich Heinrich, und wir marschierten durch die eisige Nacht zum Bataillon zurück...
“Doktor, retten Sie mir das Leben!”
Auch die russische Ärztin Vera Pawlowna Roschdestwenskaja geriet beim Anblick eines Verwundeten unversehens in eine Krise. Obwohl sie von der Notwendigkeit dieses Krieges überzeugt war, erschütterte sie doch das Einzelschicksal:
Als ich erfuhr, daß die 33. Armee weiter vorrückte, habe ich den Chefarzt der Armee gebeten, mich mitzunehmen, denn ich hatte noch kein Praktikum als Chirurg. Der Kommandeur stellte mir also die Papiere aus, daß ich mit der 1. Moskauer Garde-Division an die Front gehen dürfe.
Ich mußte lange suchen, bis ich die Division gefunden hatte, und war mit allen möglichen Fahrzeugen unterwegs. Endlich aber fand ich sie und legte dem Kommandeur des Sanitäts-Bataillons meine Papiere vor. Es war Januar 1942. Das Dorf hieß Kolodjes. Als der Chef des Sanitäts-Bataillons aus den Papieren ersah, daß ich in seiner Einheit arbeiten wollte, fragte er, was er so dicht an der Front mit einer Frau anfangen solle. Es waren nur Männner in dieser Division, allerdings auch eine Ärztin; sie war die Frau dieses Bataillons-Kommandeurs.
Ich wurde dem chirurgischen Zug des Sanitäts-Bataillons zugeteilt. Am nächsten Morgen bekam ich einen weißen Kittel und eine Schürze, die bis zu den Stiefeln reichte. Ich habe die Ärmel hochgekrempelt und ging ins Verbandszelt. In dem Sanitäts-Bataillon gab es zwei Zelte, in denen operiert wurde; in einem Zelt die leichter Verwundeten, im anderen Zelt die Schwerverwundeten. Ich arbeitete vorerst in dem Zelt, in dem die leichter Verwundeten versorgt wurden. Bei ihnen haben wir immer nur die Kleidung an den Stellen aufgeschnitten, wo eine Wunde zu versorgen war.
Mein erstes Erlebnis war, daß in diesem Verbandszelt eine schwache Stimme “Doktor, Doktor” rief. Ich ging zu dem Verwundeten hin, und er sagte: “Bitte helfen Sie mir! Retten Sie mich!” Der Verletzte war noch ein ganz junger Mann, etwa achtzehn Jahre alt, wie ein Kind. Er hatte ein ganz weißes Gesicht gehabt, wie ich es noch nie gesehen hatte. Er flehte mich an: “Doktor, retten Sie mir das Leben! Ich will zurück zu meiner Mutter.” Dabei erhob er sich etwas und stützte sich auf einen Arm. Da konnte ich seinen Rücken sehen. An beiden Seiten der Wirbelsäule hatte er zwei riesengroße Wunden. Und aus einer der Wunden spritzte Blut heraus. Ich wollte mich noch über ihn beugen, doch er fiel schon wieder zurück und starb.
Ich stand da und begann zu weinen. In diesem Augenblick kam der Chefarzt in das Verbandszelt. Er sagte zu mir: “So darf man nicht reagieren! Sie müssen Ihre Kräfte auf achtzehn Stunden Operieren verteilen, sonst können Sie den Verwundeten bald nicht mehr helfen.”


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