Arzt und Triage


Inmitten der Rückzugswirren – kurz nach dem Fall von Stalingrad – erlebte Dr. Hermann Kerger, Stabsarzt in der Krankentransport-Abteilung 693, eine Situation, die ihm noch heute in Erinnerung geblieben ist. Er ist im Februar 1943 mit dem Problem der sogenannten Triage in aller Härte konfrontiert worden.
Unter dem Begriff Triage versteht man die Einteilung von Verwundeten nach der Schwere ihrer Verletzung und die Bestimmung der Reihenfolge ihrer Behandlung sowie ihres Abtransportes. Die Triage bedeutet, daß diejenigen Verwundeten als erste behandelt werden, bei denen der ärztliche Erfolg am größten zu sein verspricht. Der Ausschluß von Verletzten von sofortiger Erstversorgung oder Weitertransport, den der Arzt aufgrund medizinischer und situationsbezogener Überlegungen notgedrungen machen muß, widerspricht – theoretisch gesehen – der ärztlichen Ethik. Auch praktisch waren solche Situationen im Krieg oft mit Gewissenskonflikten der Ärzte verbunden, die die Triage zu verantworten hatten. Für diese in Kriegszeiten gewissermaßen alltägliche Situation gibt Dr. Hermann Kerger ein besonders dramatisches Beispiel:
Im Februar 1943 geriet ich in eine Situation, die zu den eindrucksvollsten gehört, die ich in diesem Krieg erlebt habe. Ich wurde mit ein paar Sanitätsdienstgraden in eine Frontlücke geschickt, in der noch ungarische Truppen hätten stehen sollen. Dort waren die Russen durchgebrochen, die Ungarn waren jedoch geflohen. Eine Kranken-Sammelstelle, die sie vorher selbst eingerichtet hatten, hatten sie im Stich gelassen.
Ich wurde von einem Chirurgen und zehn Sanitäts-Dienstgraden begleitet. Mehr Leute waren wir nicht – und wir fanden etwa zweitausend Verwundete vor. In der überwiegenden Mehrzahl waren es Deutsche. Sie waren dort ohne jede medizinische Versorgung zurückgelassen worden. Diese Verwundeten lagen in den Bauernhäusern zweier Dörfer. Ich weiß noch genau: Die Dörfer hießen Solnzewo und Korowino. Das war ungefähr in der Gegend von Bjelgorod in der Ukraine.
Uns blieb erst einmal nichts anderes übrig, als vierundzwanzig Stunden lang am Tag Verbände zu wechseln und uns mit Kaffee aufrechtzuhalten. Neben der Scheune, die wir als Verbandsraum eingerichtet hatten, lagen schon bei unserer Ankunft mindestens einhundert Leichen. Es war nicht möglich, sie zu begraben. Dazu hätte man erstens den Boden sprengen müssen, wozu wir gar nicht in der Lage waren, und zweitens hatten wir die Arbeitskräfte nicht, um die Toten zu beerdigen. Denn wir mußten natürlich zuallererst die Verwundeten versorgen. Die Soldaten starben und wurden gestapelt. Das sind zwar furchtbare Dinge, aber irgendwann sieht man das gar nicht mehr. Und doch bekommt man diese Bilder nicht mehr aus dem Gedächtnis heraus. Wir konzentrierten uns damals vor allem aber auf die Menschen, denen wir noch helfen konnten.
Es dauerte nicht lange, da bekamen wir von unserem Generalarzt den Befehl, die Verwundeten in Flugzeugen abzutransportieren. Dies geschah üblicherweise mit Ju-52-Transportmaschinen, in denen zwölf Menschen liegen oder fünfundzwanzig sitzen konnten. Doch wir hatten zweitausend Mann in den Bauernhäusern liegen! Uns war von vornherein klar, daß es unrealistisch ist zu hoffen, genügend Transportflugzeuge zur Verfügung gestellt zu bekommen. Und das schlimmste war: Wir mußten zuerst Landemöglichkeiten schaffen. Denn es war tiefster Winter; alles war verschneit. Also mußte erst einmal auf einer Strecke von etwa zweihundert Metern Schnee geschaufelt werden. Auch das mußte mit den zehn Sanitäts-Dienstgraden gemacht werden. Das machten wir auch, doch lag die vorgesehene Landestelle zu allem Überfluß auch noch drei Kilometer von den beiden Dörfern entfernt.
Wie jetzt die Verwundeten dahinbringen? Es blieb nichts anderes übrig als von Haus zu Haus zu gehen und zu sagen: „Wir haben die Möglichkeit, euch von hier wegzubringen. Wie wir euch zum Landeplatz bringen sollen, wissen wir nicht. Jeder, der irgendwie noch krabbeln kann, muß selbst gehen. Und die, die gar nicht mehr können, müssen eben in Schlitten, oder was wir sonst haben, zum Landeplatz gebracht werden.” Und es gelang. Wir haben alle zweitausend Mann drei Kilometer weit zu dem Flugplatz hingeschleppt. Glücklicherweise war es nicht mehr ganz so kalt wie noch im Monat vorher. Aber zehn Grad minus waren es bestimmt. Und bei dieser Temperatur lagen nun die Soldaten auf dem freien Feld und warteten auf die Flugzeuge.
Und die Flugzeuge kamen auch. Von der ersten Maschine an wählten wir unter den Verwundeten aus. Wir wußten ganz genau: Alle kriegen wir nicht weg. Wer also kommt zuerst dran? Wir hatten keinerlei Befehle. Es stimmt nicht, wie heute zuweilen gesagt wird, daß wir weiterhin Wehrdienstfähige hätten aussuchen sollen. Kein Mensch hat uns je so etwas gesagt. Als erste abtransportiert haben wir also die, die eine rasche Versorgung brauchten. Zurückgelassen haben wir Soldaten mit Bauchschüssen, die schon über vierundzwanzig Stunden gelegen und eine Peritonitis hatten. Als Arzt kann man eigentlich kaum verantworten, daß man so denken muß. Aber es ging nicht anders. Es wäre sinnlos gewesen, anders zu entscheiden. Die Soldaten mit Bauchschüssen hätten im Flugzeug einen Platz weggenommen und wären im Hinterland gestorben. Also mußten wir sie hier sterben lassen. Furchtbar! Es ging aber nicht anders.
Andererseits wußten wir, daß Verletzte mit Gehirnschüssen ziemlich lange aushalten. Sie waren transportfähig. Erst, wenn sie operiert waren, brauchten sie absolute Ruhe. Also haben wir die Gehirn-Verletzten zuerst ausfliegen lassen. Außerdem achteten wir darauf, daß möglichst viele Verwundete sitzend transportiert wurden. Der Flug dauerte ja nur etwa eine Stunde; dann waren die Verwundeten im nächsten Kriegslazarett. Doch die Flüge wurden bald immer spärlicher. Der Gefechtslärm kam immer näher. Wir hatten etwa zehn Transporte hinter uns, als auch noch Landser von der Front kamen, die mitfliegen wollten. Wir mußten ihnen gegenüber entschieden feststellen, daß alle Flugzeuge ausschließlich für den Verwundeten-Transport bestimmt waren. Die Soldaten akzeptierten das sofort. Die Disziplin war damals sehr gut.
Wir zweifelten schon, ob überhaupt noch Transportflugzeuge kommen würden, da kam mit einer der letzten Ju 52 ein Unterarzt mit einem Sanitäts-Dienstgrad und brachte einen Befehl von der Armee mit. Demnach sollte unsere Sanitätseinheit versuchen, sich zu Fuß durch die russischen Linien durchzuschlagen. Er, der Unterarzt, habe den Befehl, die Verwundeten den Russen zu übergeben. Es gelang uns tatsächlich, durch die russischen Linien hindurch unsere Front zu erreichen. Dabei versuchten wir zwar, dem Gefechtslärm möglichst auszuweichen, trotzdem wurden wir beschossen. Auch habe ich damals zum ersten Mal in meinem Leben Wölfe heulen hören. Sie waren hinter uns in der Nacht.
Diese Situation bei Bjelgorod war die größte moralische und ärztliche Anforderung meines Lebens. Ich habe eine Auswahl unter Hilfsbedürftigen treffen müssen. Und es mußte auch noch schnell gehen. Daß ich dabei Fehler gemacht habe, liegt auf der Hand. Fehler waren unvermeidlich – und doch mußte gehandelt werden.
Die Triage muß nicht – wie im Falle Dr. Kergers – bedeuten, daß Verwundete nicht abtransportiert werden; sie kann im Gegenteil darin bestehen, Verletzte medizinisch unversorgt umgehend an andere Lazarette zu überweisen und dabei in Kauf zu nehmen, daß wertvolle Zeit für die Behandlung dieser Verwundeten verstreicht. Eine solche Situation ist beispielsweise Mitte November 1943 bei der 206. Infanterie-Division im Mittelabschnitt der Ostfront eingetreten. Im Tätigkeitsbericht des Korpsarztes des 6. Armeekorps steht: „Der Führer des Hauptverbandplatzes ist zwar Feldchirurg, muß aber alle Fälle weitertransportieren, um nicht vollzulaufen mit nicht transportfähigen frisch Operierten. Alle Kopf-, Lungen- und Bauchschüsse werden auf Befehl des Armeearztes nicht versorgt, sondern sofort der Krankenverteilerstelle Witebsk überwiesen, die sie weiter nach Stario Szelo leitet.” Es ist klar, daß dieser Befehl für viele, wenn nicht sogar für die meisten dieser Verwundeten einem Todesurteil gleichkam, ebenso wie klar ist, daß den behandelnden Ärzten in der Situation kaum eine andere Wahl blieb.


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