Die "Epiphänomenforschung" in der biologischen Psychiatrie


Neben den paradigmatisch geleiteten, sozusagen traditionellen Forschungsansätzen der naturwissenschaftlich orientierten Psychoseforschung, die ich hier skizziert habe, gibt es auch eine reichhaltige Literatur über Untersuchungen, denen explizit kein Paradigma zugrunde liegt. Es sind dies Arbeiten, die allein dadurch motiviert zu sein scheinen, daß von irgendeinem Wissenschaftler irgendeine Methodik beherrscht wird. Gleichsam zufallsbedingt wird diese Methode dann auf einen bestimmten Problembereich angewandt, im von uns betrachteten Fall also auf die Erhebung körperlicher Befunde bei Psychosen.
Es liegt in der Natur eines solchen Vorgehens, daß dabei - von den gewohnten Widersprüchlichkeiten einmal abgesehen - isolierte, von jedem übergreifenden Gedankengang dissoziierte Ergebnisse herauskommen, die eine Hypothese weder bestätigen noch falsifizieren können. Vielmehr werden solche "Ergebnisse" selbst zur Quelle von Spekulationen - und fast immer zum Anfang einer mehr oder weniger langen Forschungssackgasse.
Zudem perpetuirt sich dieser Forschungszweig selbst, indem ein beträchtlicher Teil der Forschungsbemühungen darauf verwandt wird, nun halt mal gemachte Befunde - unabhängig von der primären Sinnhaftigkeit des Problems - zu replizieren oder zu widerlegen.
Ich möchte diesen Forschungstyp hier als "Mal-gucken-was-passiert-Forschung" bezeichnen. Diese MGWP-Forschung tritt immer dann und in dem Maße in Erscheinung, in dem kein dominierendes Paradigma die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler zu fesseln vermag.
So untersuchte man bei Psychotikern - entsprechend dem jeweiligen Methodenstand - Körpertemperatur, Körpergewicht und "sphygmographische Pulskurven" (Grashey 1882), Pupillenreaktionen und Blutdruck (Weber 1910), das Hirngewicht (Scharpff 1912, Brown et al. 1986), die Leukozyten (Pförtner 1913, Murphy et al. 1987), die Gerinnungszeit des Blutes oder die Blutkörperchen-Senkungsgeschwindigkeit, das Blutbild (Gundel 1928), den "Gasstoffwechsel" (Fischer 1928a,b), die Serumkolloide (Büchler 1928), den Grundumsatz (Greving 1936), den Schweißgeruch (Smith und Sines 1960), Acetyl-Methyl-Carbinol (Anderson und Dawson 1962), ein Venengeflecht, das zuweilen in einer Hautfalte proximal des Fingernagels sichtbar ist (Maricq 1963), Bufotenin im Urin (Tanimukai et al. 1967, Kärkkäinen et al. 1988), den Hautwiderstand (Torwirth 1973, Williams et al. 1985), die Augenbewegungen (Diefendorf und Dodge 1908, Couch und Fox 1934, Holzman et al. 1973), das Plasma-Renin (Altamura et al. 1977), antidiuretisches Hormon (Raskind et al. 1978), Albumin und Transferrin (Bock 1978), Glukose, Insulin und freie Fettsäuren im Blut (Yaryura-Tobias 1978), die Speichelsekretion (Emrich et al. 1979), die circadianen Temperaturen (Mug und Martin 1980), die Belastbarkeit mit Glukose (Klempel und Bleeker 1980), die Fingerspreizfähigkeit (Lemke 1985), Spurenelemente im Haar (Tada et al. 1986), den Hämatokrit (Mathew und Wilson 1987), das Riechvermögen für Androstenon (Isseroff et al. 1987), das Augenblinzeln (Boutros und Hatch 1988), die Kälteagglutinintiter (Spivak et al. 1988), Prostaglandin im Speichel (Ohishi et al. 1988), die - um damit an den Anfang dieser Auflistung noch einmal zurückzukehren - Körpertemperatur (Souetre et al. 1988), die Reaktionsgeschwindigkeit, mit der Kranke auf einen Lichtreiz drei Sekunden nach einem Warnton reagieren "by lifting their forefinger from a telegraph key" (Schwartz et al. 1989), usw. usw.
Zur Zeit wenden sich die wissenschaftlichen Heerscharen wieder Projekten zu, die vom Forschungskonzept her aus der Zeit um die Jahrhundertwende stammen könnten. Nach Pneumencephalographen und Computer-Tomographen rückt man nun der Anatomie und Grobfunktion des Gehirns mit Magnetspin-Tomographen und Positronen-Emissions-Tomographen zuleibe. Vom frontalen Cortex (Andreasen et al. 1986) bis zum Cerebellum (Lohr und Jeste 1985) werden die Gehirne der Psychotiker mit neuen Techniken zwar, aber altbekannten Denkansätzen wieder einmal in Scheiben zerlegt. Atrophie ja (Weinberger et al 1982), Atrophie nein (Jernigan et al. 1982), Gliose ja (Casanova et al. 1987), Gliose nein (Robens et al. 1987a,b), hin und her schlägt das Pendel der Ergebnisse. Und kaum einer hält einmal inne und fragt, warum er fragt.
Wohin aber "reine Messung" führt, Messung also, für die ein Paradigma keine Erwartungswerte oder sinnvollen Meßbereiche vorgibt, zeigt die derzeitige Computer-EEG-Forschung, in der von etwas boshaften Kritikern Ableitungen an Kohlköpfen vorgenommen worden sind, die sich kaum von regulären Ableitungen unterschieden haben sollen. Dieses Einfach-drauf-los-Messen und Korrelieren mit allem, was in die Quere kommt, ist kennzeichnend für eine Wissenschaft, die kein Paradigma besitzt, was unter anderem zur Folge hat, daß man eigentlich gar nicht genau weiß, was man mißt. Der Wissenschaftsbetrieb erschöpft sich dann großteils darin, daß gemessen wird, was aufgrund des vorhandenen Instrumentariums meßbar ist. Kuhn (1978) schreibt dazu folgendes: "Beim Fehlen eines Paradigmas oder eines Kandidaten für ein Paradigma scheinen alle Tatsachen, die irgendwie zu der Entwicklung einer bestimmten Wissenschaft gehören könnten, gleichermaßen relevant zu sein. Folglich ist das Zusammentragen von Fakten in der Frühzeit eine Tätigkeit, die weit mehr dem Zufall unterliegt als die, welche die darauf folgende wissenschaftliche Entwicklung kennzeichnet. Darüber hinaus bleibt sie, in Ermangelung eines Grundes dafür, nach versteckten Informationen zu suchen, gewöhnlich auf die Vielfalt der leicht greifbaren Daten beschränkt".
Natürlich erzeugt die Erforschung von Epiphänomenen der Psychosen auch durchaus positive Ergebnisse. So fand zum Beispiel Loveland bei 57 Fällen von "Melancholie einen stärkeren Hb-Gehalt und eine Vermehrung der Zahl der roten Blutkörperchen" (Zitat nach Schott 1903). Mall et al. (1952) stellten eine verminderte proteolytische Wirksamkeit der Leukozytenfermente, insbesondere des Trypsins bei Schizophrenen fest, Ibrisoye (1976) eine verminderte Aktivität der Leukozyten-Oxydase-Enzyme, Ismail et al. (1978) eine Störung der Methylierungsprozesse im Leukozyten. Und im Lauf der Jahre behaupteten mehrere Autoren, eine Erhöhung des Serum-Kupfers bei Schizophrenen gefunden zu haben. (Siehe dazu die Übersicht Özers 1956, der diese Befunde nicht bestätigen konnte). Usw. usw.


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