1 KUNST UND WISSEN


1.1 Künstler und Wissenschaftler als Verbündete


Die Heimat der Intuition ist gemeinhin die Kunst. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, daß die Wissenschaft dem Wissenserwerb diene und die Kunst der Schauplatz des Schönen und des schönen Scheines sei. Dort die Rationalen und Klardenker mit ihren harten Fakten und logischen Schlüssen, hier die Emotionalen und Übergeschnappten, die mehr für die gehobene Unterhaltung, das Dekorative und die Bohème zuständig sind.
Goethe und der Autor dieses Buches (und Millionen andere hoffentlich auch) sehen das nicht so klar getrennt. Goethe erkennt in den Erscheinungen – im Sinnlichen also – den Ausgangs- und Endpunkt all dessen, was wir „Wissen“ nennen. Eine Methode, um unseren Ahnungen von den letzten Dingen Ausdruck zu verleihen, ist deshalb die Kunst, weswegen Goethe speziell der Bildenden Kunst den Rang einer Wissenschaftssprache einräumte. In diesem Sinne sind Künstler also auch Wissen-Schaffende. In seinem Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl“ von 1789 schreibt Goethe den Künstlern die Fähigkeit zu, in ihren Darstellungen Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Dinge, egal wie, zu malen ist also mehr, als sie abzubilden, sondern wir nähern uns damit auch den inneren Gesetzen, sprich: dem Wesen der Natur. „Gelangt die Kunst durch Nachahmung der Natur, durch Bemühung, sich eine allgemeine Sprache zu machen, durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst endlich dahin, daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art, wie sie bestehen, genau und immer genauer kennenlernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen charakteristischen Formen nebeneinanderzustellen und nachzuahmen weiß: dann wird der Styl der höchste Grad, wohin sie gelangen kann, der Grad, wo sie sich den höchsten menschlichen Bemühungen gleichstellen darf. ... so ruht der Styl auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.“ (kursiv im Original) „Für die Forschung“, schreibt sogar der Soziologe, Jurist und Nationalökonom Max Weber in seiner Abhandlung Die Objektivität sozial- wissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, „will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine ́Hypothese ́, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Es ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.“ Der Sperrdruck im Zitat stammt von Weber selbst. Liest man nur das Sperrgedruckte, ergibt sich pikanterweise die Kurzformel: Forschung ist Darstellung.
Wohl auf den österreichischen Dichter Johann Nepomuk Hummel geht der Ausspruch zurück: „Kunst kommt von Können“. Er sagte das im Rahmen eines Wortspiels. Schaut man jedoch auf die Wortgeschichte, so leitet sich „Kunst“ vom althochdeutschen „kunnan“ ab. Und das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als „erkennen“ und „wissen“! Das Partizip des Verbs „kunnan“ lautet „kunst“. Was sollte uns hindern, die Kunst und ihre Theorie als eine Erkenntnistheorie aufzufassen?


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