3 KRITIK DER HISTORISCHEN WAHRNEHMUNG


3.1 Wie frei ist die Geschichtsschreibung?


Zum Gebrechen der Subjektivität in der Geschichtsschreibung äußerte sich der Historiker Leopold von Ranke in seinen „Tagebuchblättern“ unter „Allgemeine Bemerkungen 1831 – 1849“ recht pessimistisch: „Die Historie wird immer umgeschrieben ...“, beklagte er. „Jede Zeit und ihre hauptsächliche Richtung macht sie sich zu eigen und trägt ihre Gedanken darauf über. Danach wird Lob und Tadel ausgeteilt. Das schleppt sich dann alles so fort bis man die Sache selbst gar nicht mehr erkennt.“ Und schließlich fragt von Ranke fast verzweifelt: „Ob eine völlig wahre Geschichte möglich ist?“
Diese Worte eines der größten deutschen Historiker klingen geradezu nach einem Offenbarungseid, denn sie lassen seine Zunft in einem für eine Wissenschaft unvorstellbaren Maß als beliebig erscheinen. Heißt das doch nichts anderes, als daß jeder gerade herrschende Zeitgeist durch unterschiedliche Auswahl und Gewichtung historischer Zeugnisse seine eigene Geschichte schreibt. „Soweit entfernt ist die Historie davon, daß sie die Politik verbesserte, daß sie vielmehr gewöhnlich von ihr verderbt wird“, sagte von Ranke in seiner Antrittsrede als Ordentlicher Professor in Berlin 1836. Wo bleibt dann die Geschichte?
Diese Art, die Geschichte je nach politischer Saison umzuschreiben, ist nicht einmal eine moderne oder gar deutsche Unart, sondern sie ist in der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung aller Menschen angelegt. Der Mensch kann eine Sache nicht immer gleich sehen. Und das gilt auch für den Rückblick in die Zeit. Deshalb wird dieser Zustand immer wieder eintreten, den Leopold von Ranke im 19. Jahrhundert beklagt hat, sodaß die Frage berechtigt ist, ob die Geschichtsschreibung nicht vielmehr eine Kunstform als eine Wissenschaftsdisziplin ist. Immerhin bekam ein Historiker, Theodor Mommsen, 1902 den ersten Nobelpreis für Literatur an einen Deutschen, der in der Folge zumeist an Schriftsteller verliehen wurde.


Zurück zum Buch
Zurück zur Bücherübersicht
Zurück zur Startseite