4 DIE MUSTERERKENNUNG ALS LEITMOTIV DER GESCHICHTSFORSCHUNG


4.6 Muster entzeitlichen und objektivieren Geschichte


Die Muster entsprechen nicht dem Bild des Weiterfließens, sondern dem von Wirbeln, wenn das Wasser über Steine und an ihnen vorbeifließt. Das Muster „steht“ am Stein. Die Wirbel im Bild des Fließens entsprechen den Mustern des formal Immer-wieder-Gleichen. Sie entstehen durch das Zusammentreffen von Menschen bestimmter Wesensart in vergleichbaren historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Situationen. Den situativen Hintergrund der zwischenmenschlichen Tatsachen und Tätlichkeiten bilden auch Hungersnöte, Finanzkrisen, Bevölkerungszuwächse, waffentechnische Überlegenheiten, aber auch die Wertewelt und überhaupt die Weltsicht einer Gesellschaft. Wir haben es also mit einer gar nicht einmal so großen, durchaus überschaubaren Zahl von verhaltensbestimmenden Rahmenbedingungen für die jeweils im Rampenlicht stehenden Menschentypen zu tun. Musterkataloge oder Mustersammlungen sind denkbar, Systematiker mögen damit Übersicht schaffen. Entscheidend ist, aus einem Muster nicht mehr zu machen als es ist: nämlich nur ein Abstraktum, ein Formalismus, eine Funktionsgleichung, in die Einzelgrößen (Wesensart, Situationsfaktoren) eingesetzt werden können, die aus den Geschehnissen herauszupräparieren Aufgabe der Historiker ist.
Es ergibt sich daraus ein ähnlicher Blickwinkel, wie er in der angloamerikanischen Justiz Rechtsicherheit verspricht: die Bindung der Richter an Vorentscheidungen, an Präzedenzfälle. So könnte mit der Zeit eine historische Wahrnehmungssicherheit entstehen bei der Beurteilung nach Ähnlichkeit von Mustern. Es wäre dann die Aufgabe berufener, ingeniöser Menschen durch Studium, Beobachtung und Erfahrung über Raum- und Zeitgrenzen hinweg mehr oder weniger gleiche Muster zu sehen und ihre Doppelnatur sowohl als Reaktion auf Gegebenes wie auch als Aktion einer typischen Wesensart zu deuten. Wie es im Fall-Recht einen vorläufig rechtsfreien Raum gibt, der durch richterliche Entscheidungen immer mehr eingeengt wird, so wird es beim „Durchmustern“ des Geschichtswissens verbleibende „verschwommene“ Zeitabschnitte geben, die durch Zuordnung von Ereignissen zu Mustern und durch kreatives Erkennen neuer Muster minimiert werden. Der choice between two lines of authority mögen dann entsprechende Auslegungen des traditionell-historischen Tatsachenmaterials verwandt sein. Ziel ist nicht die vollständige Beseitigung dieses musterlosen – amorphen – menschlichen Treibens, das die traditionelle detailverpflichtete Geschichtsschreibung bereithält, sondern durch die solcherart vollzogene Aufbereitung des historischen Materials den Blick freizumachen auf die Universalien des Menschseins beziehungsweise der Geschichte.


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