5.5 Zur Unsterblichkeit des Ich


Ich möchte die Leser zu einer Gedankenreise einladen: zu der Überlegung, daß das Ich als unsterblich denkbar ist. Diejenigen Leser, die diese Einladung für eine Zumutung halten, mögen dieses Kapitel überspringen und das Buch zuklappen, weil es das letzte Kapitel dieses Buches ist. Sie sprängen sonst quasi ins Leere. Falls diese Leser das Buch von Anfang an gelesen haben, bedanke ich mich für die Ausdauer und Geduld mit mir. Auf Wiedersehen.
Wir anderen können mit der Frage beginnen:
„Was sucht, wenn wir nach einem Wort suchen, das uns augenblicklich nicht einfällt?“ „Wer oder was ist das Subjekt der Suche?“
„Ich“ heißt es sprachlich. Was aber ist das Ich in diesem Moment?
Es weiß, welches Wort es sucht, weiß aber nicht, wie es lautet. Es weiß, was es nicht weiß. Das Suchende weiß vielleicht nur den Anfangsbuchstaben oder die Silbenzahl oder daß das gesuchte Wort einem anderen Wort ähnlich ist, welches sich immer wieder vor die Erinnerung schiebt.
Wörter mögen in unserem Gehirn verschieden codiert sein. Vielleicht sind Teile der Wörter verstreut gespeichert, und werden nur zum Zweck des Aussprechens oder bewußten Denkens zusammengesetzt. Und auch die Teile mögen an keinem festen Platz abgelegt sein, sondern dreimal das gleiche Worte etwa zerlegt an verschiedenen Orten im Gehirn: einem Ort für Bedeutungszusammenhänge vielleicht, das andere gleiche Wort zerlegt an einem Platz für ähnlichen Klang oder für Emotionen oder, oder...
Wie immer die Abspeicherung beschaffen sein mag, kaum jemand wird bestreiten, daß sowohl das Suchende wie das Gesuchte im Gehirn vorhanden ist. Woher weiß das Suchende, jener rätselhafte Prozeß im Gehirn, was es letzten Endes sucht? Woher weiß ein Autofahrer, der in seiner Wohngegend ständig woanders parkt, jedes Mal, wo sein Auto steht. Er überlegt kurz, und „es fällt ihm ein“. Aus der Fülle seiner Gedanken, aus allem, was in seinem Gehirn codiert und gespeichert ist, weiß er plötzlich – wie aus dem Nichts – wo sein Auto steht. Von wem weiß das Gehirn, daß ihm in einem bestimmten Augenblick der Parkplatz einfallen soll und nicht der Vorname der Freundin oder der Hochzeitstag oder der Platz, wo das Auto vor drei Tagen stand?
Dieses suchende Subjekt ist ewig unobjektivierbar. Wir können es ebenso wenig erkennen, wie wir den Boden an der Stelle sehen können, auf der wir gerade stehen. Wir nehmen die Welt wahr, aber das wahrnehmende Subjekt bleibt uns ewig verborgen.
Nicht das Konstrukt unserer Sprache, das grammatikalische Subjekt, ist gemeint, sondern eher, aber nicht nur, der primäre Bezugspunkt unserer Wahrnehmung der Außenwelt, unseres Körperempfindens und vieler anderer vor-, unter- und unbewußter Regungen.
Man sage nicht, die Außenwelt bilde sich gewissermaßen in der Sehrinde oder im Innenohr ab. Denn was wählt dann unter den unzähligen Sinnesreizen aus, die sich dort abbilden? Was unterscheidet zwischen Wichtigem, das uns bewußt wird, und Unwichtigem, das wir im Grunde gar nicht wahrnehmen. Wie wird das beim Sich-erinnern Suchende bei der Wahrnehmung zum Filter? Unsere Interessenlage? Wessen Interesse?
Ich kenne die Bedenken gegen solcherart Metaphysik, etwa die wirklich geistreichen sprachkritischen Analysen der „Wiener Schule“ oder die ausgeklügelten hirnphysiologischen Experimente des US-amerikanischen Psychologen Benjamin Libet, der 2007 in Davis/Kalifornien gestorben ist. Nach ihm produziert das Gehirn – als Organ – sein Bewußtsein selbst. Nicht allerdings das Selbstbewußtsein eines sich nie ganz erkennenden Subjekts. Auch den gezielt provozierten „Worteinfall“ erklärt diese Theorie nicht.
Immer wieder zeigt sich, daß man zu keinem Ergebnis kommt, wenn man zur Erklärung eines Phänomens in einem als geschlossen definierten System nur innerhalb des Systems nach der Lösung sucht. Das Problem kann dann unlösbar sein. Erst der Rückgriff auf einen Bezugspunkt außerhalb des Systems ermöglicht die Lösung. Deshalb denke ich mir jetzt keck ein „Ich“ außerhalb von Zeit und Raum, das uns in Raum und Zeit als Subjektivität, als Selbstbewußtsein, gewahr wird.
Ich will den Gedanken noch weiter treiben: Wie das Ich als Ausgangpunkt aller Wahrnehmung und allen Denkens sich selbst nicht wahrnehmen und gedanklich fassen kann, so ist auch der Tod selbst nicht wahrnehmbar und nicht faßbar, denn im Grunde ist er nur Abwesenheit. Man könnte darüber sinnieren, ob das Ich, das Subjekt unseres Leibes und Lebens, dasselbe ist – bitte nicht erschrecken – wie das, was wir Tod nennen. In dem Falle bliebe das Subjekt „als Tod“ erhalten, wenn die Dinge, die das Leben ausmachen, verschwinden. Nicht das Ich, nicht das Subjekt in uns stürbe dann, sondern nur das Anti-Ich: das, was uns entgegensteht, die Gegenstände, also die Welt, in der wir leben, auch unser Ich, das wir im Spiegel sehen und das wir auf der Analytiker-Couch zerfriemeln können. Nach dieser Überlegung könnte man sich „das Ich hinter dem Ich“ als unsterblich denken, denn es war schon immer „tot“, das heißt: nicht von dieser Welt.
Ob „Ich“, ob „Seele“, ob „Geist“, ob „Tod“, nichts von alledem ist wohl je unserer kruden Sinnes- und wissenschaftlichen Wahrnehmung zugänglich. Es sind nur Begriffe: Annäherungen an das Undenkbare. Der Philosoph und Dominikaner Meister Eckhard, gestorben 1327 in Köln, meinte ähnliches, als er vom „Fünklein der Seele“ sprach, „das nie Zeit oder Raum berührt hat.“ Der Philosoph und Mathematiker Edmund Husserl, gestorben 1938 in Freiburg, sprach einmal vom „transzendentalen Ich“, umschrieb es aber mit anderen Worten als Eckhard.
Ein Ich außerhalb der Zeit? Wie könnte man es sich vorstellen? Vielleicht analog einer alten Zelluloid-Filmrolle? Darauf sind Tausende einzelner Standbildchen, von denen jedes einzelne, wenn die Filmrolle abgespielt wird, uns nicht sichtbar ist. Die Standbildchen fließen erst in unserer Wahrnehmung zusammen und werden zu Bewegung, zum Film. Das Abspielen des Films ist ein Vorgang in der Zeit. Auf der Filmrolle existieren die vielen Einzelbilder gleichzeitig. Der Film ist unser Leben. Unser „Ich hinter dem Ich“ sind die einzelnen Bilder in ihrer Gleichzeitigkeit. Was wir „Zeitlosigkeit“ oder „Ewigkeit“ nennen, kann von uns auch als „Gleichzeitigkeit von allem“ gedacht werden. Drei Worte für etwas, wovon wir keinen Begriff haben, das sich unserem intuitiven Denken aber immer wieder aufdrängt.
Erkenntnis im „klassischen“ Sinne gewinnen wir durch diese „Wortklauberei“ natürlich nicht. Das höchste, was wir erreichen können ist, einer Ahnung Ausdruck zu verleihen. Hier nenne ich es „Ahnung“. Vorhin habe ich es „Einfall“ genannt. Vielleicht finden wir einmal für das „Ich“, für die „Seele“, für die „Größe Z“ oder – wie immer wir es nennen mögen – eine Zahl, eine Formel, ein surreales Modell, das uns wissenschaftliche Wirklichkeit suggeriert.
Selbst Immanuel Kant, gestorben 1804 in Königsberg, der große Aufklärer und Rationalist, war derlei „mystischen“ Gedankengängen nicht unzugänglich, wenngleich mit der ihm eigenen skeptischen Distanz. In seiner Schrift „Träumereien eines Geistersehers“, in der er sich mit einem zu seiner Zeit berühmten schwedischen Naturwissenschaftler und Mystiker kritisch auseinandersetzte, schrieb Kant: „Ich gestehe, daß ich sehr geneigt bin, das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten und meine Seele selbst in die Klassen dieser Wesen zu versetzen. Was in der Welt ein Prinzipium des Lebens enthält, scheint immaterieller Natur zu sein.“ Und vorsichtig schließt er nicht aus, daß diese „immaterielle Natur allein übrig“ bleibe und „sich ihrem Bewußtsein zu klarem Anschauen“ öffne.
Was heißt das? Was alle Religionen weltweit und seit jeher behauptet haben, daß wir – bei aller Undenkbarkeit – als Subjekt, als Ich, auch nach dem Tod weiterleben. Beweisen kann man dies im naturwissenschaftlichen Sinne selbstverständlich nicht. Aber es ist möglich. Das mag uns trösten? Das mag uns erschrecken?


Zurück zum Buch
Zurück zur Bücherübersicht
Zurück zur Startseite