Epilog


In den Schlußkapiteln dieses Buches habe ich Gedanken geäußert, die etwas waghalsig erscheinen mögen. Manche Leser mögen sich an Gottesbeweise erinnert fühlen (Kap. 5.4) oder an religiöse Überzeugungen (Kap 5.5). Ähnlichkeiten und bewußt herbeigeführte Analogien will ich auch nicht bestreiten.
Ich möchte zur Art und Weise meiner Argumentation in diesen Kapiteln einen Vergleich mit der Malerei und Musik anführen: Die Malerei tritt spätestens seit dem 19. Jahrhundert frei an die Welt heran, das heißt sie überschreitet ungeniert Grenzen bis zur Anstößigkeit, zur Blasphemie, zur puren Lust an der Relativierung von Formen und Farben. Die Musik überschreitet die Grenzen der Harmonie, um uns Eindrücke zu vermitteln, die wir mit dem Bestand gewohnter harmonischer Klänge nie erfahren würden. All das ist heute neben der Verehrung des Althergebrachten fester Bestandteil unserer Kultur.
Im Gegensatz dazu herrscht bei der Sprache, sofern sie sachbezogen ist, eine große Verkrampfung. Schlüsse aus Sätzen unterliegen dem Diktat der Grammatik, gedankliche Operationen müssen logisch sein, sonst sind sie „Spinnerei“. Das kreative Spiel mit Gedanken, Sprachbildern und gefühlten Sätzen stößt außerhalb der Romanwelt nicht nur auf Unverständnis, sondern gilt manchen sogar als „falsch“. Das Infragestellen des logischen Beweises als einzigem Wahrheitskriterium hat rasch den Ruch von „Ketzerei und Okkultismus“.
Dabei hält die deutsche Sprache zum Thema Beweisführung einen interessanten Begriff bereit: den der „Beweiskraft“. Er lenkt das Augenmerk darauf, daß ein logischer Beweis, der die Wahrheit eines Satzes darlegt, erst mithilfe eines psychologischen Zusatzes die Hürde zu einem Wirklichkeitskriterium erklimmen kann. Mag ein kosmisches Schwarzes Loch mathematisch noch so wahr und möglich sein, ob diesen Berechnungen eine reale Existenz entspricht, hängt von der Bereitschaft der Menschen einer Epoche ab, dies als „glaubwürdige“ Erklärung für eine Beobachtung anzusehen. Ansonsten halten sie die Berechnungen oder Sätze für „unglaubhaft“. Beweiskraft und Glaubenskraft bedingen sich also gegenseitig, sind vielleicht die gleiche „Kraft“. Demzufolge genierte ich mich nicht, das eine oder andere Mal auf die Beweiskraft ästhetischer und ethischer Beweisführungen zu setzen.
Damit will ich auch Hoffnung machen. Der moderne Mensch sollte nicht davor zurückschrecken, über das Undenkbare nachzudenken, und er sollte sich vor allem nicht durch eine grassierende kaltschnäuzige Intellektualität in seinen Ahnungen und Glaubensgewißheiten verunsichern lassen. Es gibt etwas – und dies ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit –, das höher ist als alle Vernunft. Wir wissen nicht, was es ist, sondern nur, daß es ist. Das ist wie ein Wort, nach dem ich suche, weil es mir nicht einfällt, und ich weiß trotzdem, daß ich es weiß. Es gilt im Sinne von Sokrates also zu wissen, daß wir nichts wissen. Das Paradoxon umkehrend gilt aber auch, daß wir nichtwissend wissen können. Solange wir bescheiden bleiben, können wir mit dieser Ansicht nicht allzu viel kaputt machen.
Zum Ausklang dieses Buches möchte ich noch einmal auf das Sterben zurückkommen und dazu ein paar Zeugen anführen, die sich in Todesgefahr befanden, jedoch überlebt haben. Es gibt eine reichhaltige Literatur dazu, auf die ich mich hier nicht beziehen will. Ich will auch nicht wissen, ob diese Empfindungen, die uns kurz vor, während und kurz nach dem Übergang zum Tod übermannen, durch hirnchemische Vorgänge erklärbar sind oder doch auf eine Welt danach hindeuten.
Mich beeindruckt an diesen Erzählungen vor allem, wie gnädig leicht sterben offenbar sein kann. Mir fällt dabei auf, daß es sich in der Regel um plötzliche Ereignisse und nicht um das langsame Sterben, nicht um den zähen Kampf um das Leben handelt. Dies mag jene trösten, die einen Menschen ganz plötzlich verloren haben. Die Wahrscheinlichkeit, daß er nicht nur schnell, sondern auch „leicht“ starb, ist hoch.
Ich persönlich nehme an, daß der „Übertritt zum Tod“ auch nach schwerem Leiden leicht ist. Die vormals von Schmerz und Bitternis gezeichneten Gesichter – wie oft sind sie friedvoll und gleichsam erlöst im Tod. Meist ist es der Körper, der sich bis zuletzt wehrt. Er kann nicht anders. So ist er konstruiert. Wohl aber den Menschen, deren Seele sich noch zu Lebzeiten bereit finden kann, den Körper loszulassen. Sie erleben diese Loslösung als Erlösung im Diesseits noch.
Es gibt einen Dokumentarfilm des uruquayischen Filmemachers Gonzalo Arijón, in dem er mit Menschen spricht, die nach einem Flugzeugabsturz 1972 in den Anden zu allem Überfluß auch noch von einer Lawine verschüttet wurden. Der Film, den ich wegen seiner existentiellen Eindringlichkeit für empfehlenswert halte, heißt: „Das Wunder in den Anden“. Einer der Verunglückten, Ramon Sabella, berichtete später vor laufender Kamera: „Ich erstickte langsam und fühlte, daß ich dabei war zu sterben. ... Alles, was ich war, was ich erschaffen und erlebt hatte, war in dieser Energie, die sich mit mir erhob. Ich sah auf drei Ebenen. Von oben sah ich alles. Ich war tot. Ich sah das vom Schnee verschüttete Flugzeug. In der Mitte sah ich das Flugzeuginnere mit den eingegrabenen Leuten. Und unten sah ich meinen schneebedeckten Körper. Mitten in diesem beeindruckenden Frieden, in dem der Tod ein Vergnügen war, das ich nie wieder gefühlt habe, sah ich von oben, wie Roy [ein anderer Verunglückter, der ihn aus dem Schnee grub] auf meine Hand trat.“
Gustavo Zerbino, ein weiterer Leidensgenosse, beschrieb seine Empfindungen so: „Es war eine wertvolle Erfahrung, die ich einfach als ein Geschenk ansehen mußte. Ich hörte auf zu kämpfen und gab mich diesem Erlebnis einfach hin. Mein Leben lief rückwärts vor mir ab. Bis zu dem Augenblick, als ich auf dem Teppich krabbelte. Meine Mutter war da und nahm mich in die Arme.“ Sein Leidensgenosse Alfredo Delgato sagte: „Wir waren in Gottes Hand. Wir hatten keinerlei Kontrolle mehr.“
Es handelte sich bei den Verunglückten keineswegs um Esoteriker, sondern um Medizin-Studenten, die einer Rugby-Mannschaft ihrer Universität angehörten. Sie waren physisch und psychisch überdurchschnittlich robust und schilderten ihre letzten Minuten, ehe sie von den weniger Verschütteten aus ihrer Lage befreit wurden, sachlich und äußerlich emotionslos.
Eduardo Strauch berichtete: „Zuerst fühlte ich große Panik, auf etwas Unbekanntes zuzugehen. In Sekunden liefen hunderte farbiger Bilder vor meinen Augen ab, Bilder aus meinem Leben, von Kindheit an alle Bilder aus meinem Leben. Ich spürte einen Genuß und eine Freude, die mich zu etwas Wunderbarem hintrugen. Auf einen Punkt, der mich sehr stark anzog. Ich ließ mich gehen und fühlte unbändige Freude. Sie holten mich von diesem Punkt, von dem es kein Zurück mehr gibt, auf den ich mich zubewegte und den ich so sehnsüchtig erwartete. Stattdessen fand ich mich in der Hölle des Gebirges wieder. Ich fühlte Verzweiflung und Trostlosigkeit.“
Unwillkürlich fielen mir bei dieser Schilderungen die Worte des Philosophen Arthur Schopenhauer ein, der 1860 in Frankfurt am Main gestorben ist. In seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ schrieb er aufgrund völlig anderer Überlegungen: „Mit dem Verschwinden des Willens aus dem Bewußtsein ist eigentlich auch die Individualität und mit dieser ihr Leiden und ihre Not aufgehoben.“ Nach Schopenhauer könne man deshalb jedem Menschen ein „zweifaches Dasein beilegen“. Zum einen ein willentliches, das uns zu dem Individuum macht, das wir in der Welt sind und welches uns „vollauf zu tun und zu leiden gibt“. Zum anderen „das reine Subjekt der Erkenntnis, in dessen Bewußtsein allein die objektive Welt ihr Dasein hat“, in dem der Mensch „alle Dinge“ ist, die er betrachtet. In diesem Zustand ist dem Menschen sein „Dasein ohne Last und Beschwerde“.
Schopenhauer, der Buddhist war, sagt damit nichts anderes, als daß die Welt und alles, was uns widerfährt, leichter wird, wenn wir nichts mehr wollen, und daß wir leiden, solange wir kämpfen. Dies ist die Essenz der „ars moriendi“, der „Kunst des Sterbens“. Schopenhauer merkt an anderer Stelle an, „daß wir der zu betrachtenden Szene völlig fremd und von ihr abgesondert bleiben und schlechterdings nicht tätig darin verflochten sind.“ So gedacht könnte man sich fast fragen, ob ein Mensch wirklich gleich tot ist, wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen und die Atmung stillsteht?
Zwei der Verunglückten wagten den Versuch, sich aus den verschneiten Anden in eine von Menschen bewohnte Region durchzuschlagen. Eduardo, einer der vierzehn anderen, die bei dem Flugzeugwrack zurückblieben, berichtete später, was er sich im Falle des Scheiterns vorgenommen hatte: „Wenn sie bis zum 24. Dezember nicht zurück wären, würde ich mich sterben lassen. Das war einfacher als weiterzukämpfen.“
Einer der beiden, die noch kämpften und das Risiko eingingen, in der Weite der verschneiten Anden zu sterben, war Roberto Canessa. Roberto und sein Begleiter gerieten bei ihrem Marsch durch den Tiefschnee in einen Schneesturm, der so dicht war, daß sie kaum einen Unterschlupf an einem Felsvorsprung fanden, ein Zelt als Windschutz hatten sie nicht. Den Erfrierungstod im Schneesturm vor Augen schien alles verloren.
Viele Jahre später zog Roberto in einem Gespräch mit seiner Tochter aus der damaligen Notlage ein Resümee: „Wenn du verzweifelt bist, mußt du ein bißchen Geduld haben und warten. Dann stellst du fest, daß in Mauern, die keine Ausgänge haben, Türen auftauchen. Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, wenn du verzweifelt bist und denkst, du wirst sterben, halte inne, und die Zeit bringt dir die Antworten. Das erlebten wir. Der Wind legte sich, und es folgte eine wunderschöne eiskalte Nacht. Ich fühlte, daß ich Gottes Freund war. Heute fühle ich das nicht mehr. Ich war der Freund desjenigen, der das alles erschaffen hatte. Der Schöpfer war mein Kumpel.“
Seine Tochter fragte ihn prompt, warum er das heute nicht mehr fühle, worauf ihr Vater sagte: „Heute haben wir belegte Brote, Zelte und das Wissen. Wir wissen, was uns umgibt.“ Und mit einem etwas verlegenen Lächeln fügte er hinzu: „Wir brauchen Gott nicht mehr so dringend.“
Ich glaube, daß wir hoffen dürfen: Der unmittelbare Übergang in die andere Welt oder in das Nichts – wie es beliebt – kann im wirklich letzten Moment als angenehm empfunden werden. Der Augenblick, in dem sich der Körper von der Seele löst, indem er seine Funktionen nach und nach einstellt, scheint befreiend zu wirken, und es ist dieser Vorgang häufig mit einer Art Glücksgefühl verbunden. Diesen Schluß lassen auch die unzähligen Schilderungen „kurzfristig Verstorbener“ zu. Vielleicht ist die Natur doch weniger grausam als sie uns vorkommt. Vielleicht kommt eine große Ruhe selbst über die Antilope, der die Löwin die Zähne in den Hals schlägt. Wenn ein Lebewesen weiß, daß nichts mehr hilft und es alles losläßt, wenn Angst und Kampf nach einer Sekunde schon eine Ewigkeit lang zurückliegen, warum soll das nicht der glücklichste Moment in jedem Leben sein? So mag in seiner Todesstunde einem jeden Menschen schlagartig klar werden, daß er seine Bestimmung in dieser Welt erfüllt hat – und daß nun das nie Begriffene, das nie Besessene, das immer nur Empfundene vollbracht ist.


Zurück zum Buch
Zurück zur Bücherübersicht
Zurück zur Startseite