Meine Eltern

Bei der Hochzeit meiner Eltern fiel ich – als zweijähriger Blondschopf – im Standesamt vom Stuhl und zog mir eine blutende Kopfplatzwunde zu. So wurde mir später jedenfalls berichtet. Es muß etwas aufregend zugegangen sein.

Ich habe den Verdacht, daß ich nicht gerade ein Wunschkind war. Mein Vater war zwanzig Jahre älter als meine Mutter, und die Beiden hatten sich während eines Bombenangriffes auf Karlsruhe in der Straßenbahn kennengelernt. Für einen vorgeburtlichen Schaden durch den Bombenterror war es noch zu früh. Details wurden mir nie erzählt, sie beschäftigten mich Kind auch nicht sonderlich, jedenfalls muß irgend etwas zu meiner Entstehung beigetragen haben – ich hoffe, nichts Posttraumatisches.

Die Zeiten waren schwer, Abtreibung aber trotzdem kein Thema. Also mußte ich an einem 9. November das Licht der Welt erblicken, was ich bis heute übrigens nie bereut habe. Insbesondere aufgrund der vielfältig begründeten Annahme, daß sich meine Eltern über mein Erdendasein freuten. Mein Vater, den es aus dem Sudetenland nach Karlsruhe verschlagen hatte, erfuhr kurz vor meiner Geburt, daß sein Sohn Erich aus erster Ehe während der Nachkriegswirren im heutigen Tschechien erschlagen worden war. Erich ging damit den Weg von etwa 200.000 Menschen, die dort nach Beendigung des eigentlichen Krieges auf zum Teil ziemlich eklige Weise ihr Leben lassen mußten. Ich hingegen kam im beschaulichen Rotenfels in Baden zur Welt.

Die Bedeutung, die ich damit für meinen Vater hatte, habe ich weder als Kind und schon gar nicht als Jugendlicher je begriffen solange er lebte. Mir fiel nur die Angst auf, die dahinterstand, wenn er mir Dinge verbot. Ich durfte nicht in einen Boxverein eintreten, ich durfte nicht Motorradfahren lernen, ich durfte nach dem Abi nicht nach Wien, um dort zu studieren, weil es zu weit weg war von Karlsruhe, ich sollte mich von politischen Aktivitäten fernhalten. Das Letztere verstand ich einigermaßen, weil er zwischen den Weltkriegen politischer Gefangener und gefoltert worden war. Witzigerweise hatte er es so nie genannt. Ich habe auch alle Verbote erst einmal eingehalten, teils weil ich ein braver Sohn war – warum hätte ich nicht brav sein sollen? –, teils weil es noch genug andere Dinge gab, die mich interessierten. Und wer weiß, wozu es gut war?

Meine Mutter wiederum war eine Kinderfetischistin. Sie war nicht religiös, aber der Spruch von Jesus „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ hätte auch von ihr stammen können. Nachdem ich gleich nach dem Abi aus dem Haus gegangen war – als Sprungbrett in die Welt erst einmal die fünfzig Kilometer Von Karlsruhe nach Heidelberg – hat sich meine Mutter noch dreier weiterer Kinder einer befreundeten Familie angenommen und sich dort eine Art Großmutterstatus ersorgt. Karlheinz heiße ich übrigens nicht, weil mein Vater Karl hieß, sondern weil meine Mutter in ihren Mädchenjahren einen kleinen Jungen kannte, der diesen Namen trug. Dieser Junge bekam zu seinem Geburtstag ein Fahrrad geschenkt, fuhr gleichen Tags damit auf die Straße herum und wurde von einem Auto totgefahren. Da habe sie sich vorgenommen, wenn sie jemals einen Sohn bekommen sollte, daß der Karlheinz heißen solle. Komisch eigentlich, nicht? Aber auch das hat mir nicht geschadet. Wer weiß, warum es so sein sollte.

Aber das ist lange her. Aus diesen meinen frühen Anfängen ist mir ohnehin alles nur durch Erzählungen bekannt. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, wie es sich anfühlt, vom Nikolaus in den Sack gesteckt und eine Treppe hochgetragen zu werden. Das gab es damals, und es galt als scherzhaft-derb-liebevoller Erwachsenenstreich. Ich fand das nicht so witzig, wußte zu dem Zeitpunkt aber noch nichts von dem heute dafür bereitstehenden pädagogischen, entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Vokabular, mit dem ich meinen Eltern die Leviten hätte lesen können. Ich glaube, ich habe einfach nur geheult – meine Mutter übrigens auch. Der Nikolaus war wohl etwas aus dem Ruder gelaufen. Ich habe den Verdacht, daß es sich um einen Nachbarn handelte, der kurz zuvor mit erfrorenen Füßen und etwas angeschossen aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Die Hausgemeinschaft, auch das gab es damals, war ganz aufgeregt. Mir fehlte noch die Empfindungstiefe für die Bedeutung dieser Rückkehr. Ob er das bemerkt hatte…?

Ein Alleinstellungsmerkmal meiner Kindheit ist übrigens, daß ich Einzelkind war. Ich mußte nie um ein Spielzeug streiten, keiner hat mir etwas weggegessen, wenn ich zu langsam kaute, ich mußte nie die Kleidung eines älteren Bruders auftragen noch auf eine kleine Schwester aufpassen, meine Eltern waren durch keine ernsthafte Konkurrenz von mir abgelenkt, ihre geballte Liebe vereinigte sich quasi in mir, mit anderen Worten: Ich war der King. Das wirkte sich positiv auf mein Selbstwertgefühl aus, so daß ich mich später als Mensch nie in Frage stellte, auch wenn ich vom Leben ein paar Nackenschläge bekam. Diese Selbstsicherheit ermöglichte es mir wiederum, ausgesprochen selbstkritisch zu sein. Denn es ging dabei nicht um meinen Wert als Mensch, der erfahrungsgemäß außer Frage stand, sondern nur um den Wert meiner Arbeit. Klar, daß mir mit dieser Einstellung mein Leben leicht fiel.

Seit ich das erkannt habe glaube ich, daß jeder Mensch die Welt so sieht, wie er sie als Kind zu sehen gelernt hat. Zuvor dachte ich lange, daß es normal sei, es mit seinen Eltern so gut getroffen zu haben wie ich. Erst während meines Psychologie-Studiums hörte ich von anderen, wie doch erstaunlich viele Mitstudenten unter ihren Eltern litten. Vielleicht ein Psychologiestudenten-Spezifikum? Da gab es Mütter, die nichts Besseres wußten als das Aussehen ihrer Töchter schlechtzureden und ihnen Minderwertigkeitskomplexe einzupflanzen. Und es gab Väter, die nicht begriffen, daß ihre Kinder irgendwann einmal erwachsen sind und dann alles mehr brauchen als eine lieblose Bevormundung.

Letzten Endes hatte ich das Glück, meinen Eltern viel von der Liebe zurückgeben zu können, die sie mir gegeben haben. Ich hatte mich nach vier reinen Philosophie-Semestern in Heidelberg in Hamburg immatrikuliert und neben der Philosophie begonnen, Psychologie zu studieren. Von Anfang an war es Tradition, daß meine Eltern mich zweimal im Jahr dort besuchten – einmal sogar mit meiner 85jährigen Großmutter aus der Schweiz. Wir hausten dann immer auf engstem Raum in meinen beiden 14- und 8-Quadratmeter-Zimmern. Das war schön. Wir alle freuten uns aneinander. Bei einem dieser Besuche starb mein Vater eines Nachts in meinen Armen.

Meine Mutter ist elf Jahre lang sehr krank gewesen. Sie konnte eigentlich nicht mehr allein in ihrer Wohnung leben, die sie inzwischen ebenso wenig als ihre Wohnung erkennt wie mich als ihren Sohn. Aber so ist das nun halt. Es gibt Dinge, die kann man sich nicht aussuchen. Ich hielt trotzdem an meinem Ziel fest, ihr einen Heimaufenthalt, wie immer möglich, zu ersparen. So wohnte meine Mutter bis zum Alter von 96 Jahren gut versorgt in ihrer Wohnung. Natürlich geht das nicht, ohne die Hilfe vieler lieber Menschen. In einer solchen Notlage erkennt man gute Menschen mit einem Mal ganz glasklar. Das ist umso einfacher, weil die etwas weniger guten mit „solchen Dingen“ nichts anfangen können und nicht mehr gesehen werden. Am Ostersamstag 2015 starb meine Mutter im Beisein lieber Menschen. Ihre Enkel, meine Kinder, hatten sie noch am Vortag, dem Karfreitag, besucht.

So konnte ich meinen Eltern, wenn es auch nicht ganz einfach war, beiden ihren Lebensabend noch recht schön gestalten. Die Liebe und die Kraft, die sie mir als Kind gegeben haben, konnte ich ihnen im Alter mit Zins und Zinseszins zurückerstatten. Das macht mich glücklich.

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Seefahrt

1971 heuerte ich auf einem Frachtschiff an und ging auf Große Fahrt. Ich war vier Monate lang unterwegs. Die Semesterferien reichten dafür nicht aus. Ich verlor ein Semester, so daß mein Psychologie-Studium acht Semester dauerte.

Dem Unternehmen lag der sozusagen experimentelle Ansatz zugrunde, ob ich als Psychologie-Student – denen ja gern eine gewisse Weichlichkeit nachgesagt wird – und nicht zuletzt als Philosoph in der rauhen Welt des Seemannslebens würde bestehen können. Meine Hypothese war: Das schaff ich.

Ich will es kurz machen: Ich schaffte es nicht nur, sondern wurde nach anfänglichen Schwierigkeiten, bei denen ich auch Glück hatte, respektiert, ja ich genoß sogar gewisse Sympathien. Gut ein Jahr lang korrespondierte ich noch mit einigen Mannschaftsdienstgraden. Unmittelbar nach der Fahrt hätte ich mich um ein Haar sogar tätowieren lassen und wäre mein studentisches Pflichtbewußtsein nicht gewesen, hätte ich die nächste Fahrt noch drangehängt. Bei der ist dann allerdings im Rahmen einer Schlägerei in irgendeiner afrikanischen Hafenkneipe ein Seemann unseres Schiffes zu Tode gekommen und ein anderer schwer verletzt worden. Währenddessen lernte ich an der Uni bei einem Vortrag über Gestalttherapie, daß in manchen Sitzungen mit Wattebäuschchen nacheinander geworfen werde, um Aggressionen abzubauen.

Mein Schiff hieß „Lichtenfels“. Angeheuert hatte ich als Messejunge bei der Reederei Hansa Bremen, die es heute nicht mehr gibt. Ich bekam 99 Pfennig pro Stunde. Bei zwölf Stunden Arbeit am Tag und Arbeit auch am Wochenende bei freier Kost und Logis läpperte sich soviel Geld zusammen, daß ich bei meinen Landgängen finanziell zurechtkam. Wir fuhren die Häfen von Koramshar/Abadan im Iran, von Goa in Indien und auf der Rückfahrt von Gijon in Nord-Spanien an. Da der Suezkanal damals noch gesperrt war, waren wir 38 Tage um Afrika herum ununterbrochen auf See, ehe wir in der iranischen Hafenstadt Koramshar einliefen. Koramshar wurde zehn Jahre später – gleich zu Beginn des irakisch-iranischen Krieges von 1980 bis 1988 – wahrscheinlich mitsamt dem Puffviertel, so ziemlich dem Erdboden gleichgemacht.

Ich nutzte den Aufenthalt, um mit einem uralten zweimotorigen Flugzeug von Abadan nach Shiraz zu fliegen. Dabei schwangen die Flügel auf und ab wie bei einem Vogel und knarrten merkwürdig. Die anderen Passagiere, nach denen ich mich verstohlen umschaute, blieben jedoch ruhig, so daß auch für mich kein Grund zur Panik bestand. In Shiraz gelandet ging ich zuallererst zur Universität und dort in die Bibliothek. Es gab dort eine überraschend große Zahl deutschsprachiger Bücher. Ich lernte einen iranischen Studenten kennen, der mir Shiraz zeigte und iranische Liebeslieder erklärte, die in einer Art Bar gespielt wurden.

Eines frühen Morgens fuhr ich mit dem Bus nach Persepolis, der Hauptstadt des alten Perserreiches. Kein Mensch war dort und erst recht kein Tourist. Ich durchstreifte völlig ungestört die Ruinen. Ich kramte meine ganzen Geschichtskenntnisse jener Zeit zusammen, die sich sogar sehen lassen konnten, und versuchte nachzuempfinden, wie die Menschen hier früher geherrscht, gefeiert, gedacht, gefühlt und eben ihr Leben gelebt haben – bis Persepolis im wahrsten Sinne des Wortes abgefackelt wurde. Am Nachmittag traf ich auf einen alten Mann, der mich mit Gesten fragte, ob ich etwas zu trinken haben wolle. Ich bejahte kopfnickend und er ging weg. Ich nahm an, er würde mit einer kleinen Flasche Cola wiederkehren und viel zu viel Geld dafür verlangen, was ich dem unterwürfigen alten Mann gern gegeben hätte. Aber er kam mit einer Schale kühlen Wassers zurück und überreichte es mir mit solcher Würde, daß ich mich nicht traute, ihm Geld dafür zu geben, denn ich hatte, Gott weiß warum, das Gefühl, daß es ihn beleidigen würde. Nun ist das mit ungekochtem Wasser in manchen Gegenden ja so eine Sache. Ich wußte nicht, wie man die Frage, ob das Wasser abgekocht sei, gestikuliert. Also trank ich die Schale in einem Zug. Der alte Mann freute sich sichtlich – und ging. Ich war einem guten Menschen begegnet.

Das mit dem Abkochen sah ich ohnehin nicht so eng, denn damals war ich der Ansicht, daß mein Körper mit jedem Bakterium fertig werden würde. Ich fühlte mich sozusagen immun gegen alles. Heute weiß ich, daß das die Vitalität der Jugend war. Neider sprechen von Unbesonnenheit.

Mit dem Schiff ging es weiter vom Iran nach Goa in Indien. Dort gab es gar keinen richtigen Hafen, wenn ich mich recht erinnere. Wir lagen jedenfalls drei Wochen lang auf Reede, wie es hieß: also vor Anker von der Küste entfernt. Die ganze Zeit über schaufelten indische Arbeiter bei glühender Hitze 7000 Tonnen Mangan-Erz in Netze, die dann mit dem schiffseigenen Kran an Bord geholt und in die Laderäume entleert wurden. Das Erz wurde in „Schuten“, mit kleinen Transportbooten, an die „Lichtenfels“ herangefahren. Diese Schuten wiederum nutzten wir Seeleute für den Landgang. Während meine Kameraden wieder einmal die örtliche Puffgegend unsicher machten, fuhr ich mit einem Küstenmotorschiff für ein paar Tage nach Bombay, das heute nach Ablegung des englischen Kolonialnamens Mumbai heißt.

Über Mumbai ließe sich extra erzählen, aber das würde zu weit führen. In Goa besuchte ich danach noch den Hippie-Strand Calangutt und verbrachte dort eine Nacht in der Hütte italienischer Hippies. Die Wellblech-Verschläge der Einwohner von Panjim, der Hauptstadt Goas, sah ich mehr im Vorbeifahren. Die Armut war unvorstellbar.

So auch in der Puffgegend im Hafen von Goa, die ich natürlich auch besuchte. Die „Nutten“ wirkten etwas dreckig, einige hatten Kinder hinter einem Vorhang des gleichen Zeltes, in dem sie, wenn ich das recht überblickte, die Matrosen bedienten. Wahrscheinlich schaufelten die Ehemänner auf einer der Schuten, um mit der Frau zusammen die Familie über Wasser zu halten. Ich soff indisches Bier und wunderte mich, daß meine Kameraden nicht der Ekel packte vor dem Schmutz in den Zelten, vor dieser Armseligkeit menschlicher Existenz und nicht zuletzt vor sich selbst. Und doch paßte irgendwie alles zusammen. Jeder lebte vom anderen, und keiner begegnete dem anderen wirklich.

Die Heimfahrt war zu lang, denn sie war so lang wie die frischfröhliche Hinfahrt. Wieder um das Kap der Guten Hoffnung herum. Fünf Mann hatten sich den Tripper eingefangen und wurden vom Zweiten Offizier mit Penicillin behandelt. Ich hatte mir trotz meiner starken Immunabwehr einen Durchfall eingehandelt, der sich gewaschen hatte. Seither stehe ich auf Kohle bei Durchfall, denn ich erlebte sofort eine wunderbare Heilung. Das war auch gut so. Denn wir durchquerten mehrere Sturmzonen. Abends floß das Bier in Strömen. Nicht nur ich, sondern auch die gestandenen Seemänner, hatten genug von dem Geschaukel. Ich fand Heimwege, die bereits Hinwege waren, schon immer deprimierend: Man hat kein Ziel, denn ein Ausgangspunkt kann nach meinem Gefühl kein Ziel sein. Natürlich freute ich mich auf zuhause, auf die Freundin, auf die Uni, auf den VW-Käfer, den ich irgendwo in Bremen am Straßenrand habe stehen lassen und der längst abgeschleppt war, auf die Schnitzel und Riesencurrywürste bei Sigi, dem Ringer, in Hamburg-Eppendorf, auf die Wohnung, die von meinem Wohnkumpel mittlerweile aufgelöst worden war, der mein Hab und Gut in mehreren Plastiktüten der Freundin aufgehalst hatte, auf die Bibliothek, auf die Reise zurück in die geliebte „geistige Welt“ der universitären Weltfremdheit.

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Philosophisch leben

Eigentlich wollte ich Geschichte studieren. Aber – ich kann es heute nicht mehr rekonstruieren: Ich muß den Anmeldetermin verpaßt haben. Falls ein numerus clausus bestanden hätte, wäre ich wegen meines schlechten Abiturzeugnisses sowieso nicht genommen worden. Also studierte ich Philosophie.

Was sich hier wie eine Notlösung anhört, war meine Bestimmung. Seit ich mit etwa 17 Jahren angefangen hatte, Bücher zu lesen – vorher konsumierte ich Billy-Jenkins- und Jerry-Cotton-Hefte – faszinierte mich das geistige Leben. Ich begann mit Franz Werfels „Spiegelmensch“, las Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ und die meisten seiner anderen Werke und so ging es weiter von einem Denker zum anderen. Man entschuldige mein Pathos, aber – aus einer einfachen, redlichen Familie stammend – ging für mich mit diesen Büchern gleichsam die Sonne des geistigen Lebens auf. So empfand ich das damals – und ich gebe zu, daß mich die Strahlen dieser Sonne heute noch genau so erwärmen.

Eine erste mündliche Prüfung legte ich in Heidelberg ab, wo ich das Philosophiestudium 1966 begonnen habe – in jugendlicher Kompromißlosigkeit natürlich ohne Nebenfächer. Als mich immerhin 20jährigen der Prüfprofessor am Ende einer Prüfung fragte, was ich den einmal werden wolle, verriet ich ihm ohne Zögern: „Ich möchte Philosoph werden“, worauf der Philosophieprofessor herzhaft lachte und mir, als er sich wieder beruhigt hatte, den Rat gab, doch etwas für einen „Brotberuf“ zu studieren. Das gab mir zu denken.

1968 wechselte ich von Heidelberg nach Hamburg. Psychologie hatte mich interessiert – mich interessierte überhaupt alles (außer Betriebswirtschaftslehre) – und so nahm ich zur Philosophie die Psychologie als „Brotberuf“ dazu. Mich interessierten sogar die Ratten-Experimente und die Statistik der psychologischen Anfangssemester. Oft bekam ich beim Lesen im wahren Sinne heiße Ohren und vergaß zu essen und daß meine Behausung zu kalt war und berauschte mich an Versuchsaufbauten, an wissenschaftlichen Denkoperationen, an kritischen Reflexionen, an manchen intelligenten Schlußfolgerungen und nicht zuletzt an der arbeitsamen Stille der Bibliotheken, in denen das gesammelte Wissen von Generationen kluger Denker nur darauf wartete, von einem kleinen Schwämmlein aufgesogen zu werden – sozusagen.

Weil das Schwämmlein immer bis zur letzten Sekunde in der Psychologen-Bibliothek im sogenannten Philosophenturm saß und sich, auch wenn schon lange kein Student mehr da war, vor der Zeit von den Bibliothekaren hartnäckig nicht rausschmeißen ließ, bekam es schließlich einen Schlüssel. Und so gab es viele Nächte in den 70er Jahren, in denen ich nachts der einzige Mensch im ganzen Philosophenturm des Hamburger von-Melle-Parks war. Ich allein! Was für ein Gefühl! So erkannte ich in jener Zeit, daß die Begeisterung für Philosophie und ehrliche Wissenschaft den Willen enorm stärken kann. Ich kleiner Student – allein im Philosophenturm! Nebenbei: Natürlich verband mich mit den beiden „uralten“ Bibliothekaren von da an ein überaus herzliches Verhältnis. Mit Stefan „Jupp“ Hansen, einem herrlich faulen Kölner, trank ich manches Bier bis zur Schmerzgrenze, und mit dem gebrauchten Besteck, das ich von Herrn Jordan geschenkt bekam, esse ich heute noch. Die Messer schneiden immer noch besser als die später zur Hochzeit geschenkten.

Schon lange hatte ich das Bedürfnis, etwas mehr über die organischen Grundlagen der Psyche zu erfahren. Ab 1972 studierte ich deshalb Medizin, für die zwar ein strenger Numerus Clausus schon damals bestand, aus Gründen, die mir unklar sind, bekam ich aber trotzdem einen Studienplatz. Wahrscheinlich ging das über „Warteliste“. Ich hätte zu diesem Zweck auch Biologie studieren können, aber auf die Idee kam ich nicht. Wahrscheinlich weil ich Biologie mit Grünzeug in Verbindung brachte und ich zu der Zeit keinen Salat mochte. Wenn ich das so schreibe, wird mir klar, wie klein die Ursachen für lebensbestimmende Entscheidungen sein können. Heute weiß ich, daß mein damaliges Bild von der Biologie gewissermaßen zu botanisch geprägt war.

1972 beendete ich das Psychologiestudium mit dem Diplom und begann von da an die psychologischen Bücher zu lesen, die mir etwas fürs Leben gaben. Zugleich begann ich das Medizinstudium. Parallel dazu besuchte ich während des ganzen Studiums Philosophie-Seminare. Schon damals erkannte ich, daß ich die Medizin ohne das Gegengewicht der Philosophie nicht aushalten würde, aber auch nicht immer die verstiegenen Fragestellungen der Hochschul-Philosophiedidaktik ohne die handfeste Denkart der Mediziner. Beides zusammen war wunderbar, und ich erholte mich jedesmal beim einen vom anderen.

1979 schloß ich die Medizin mit dem 3. Staatsexamen und der Approbation zum Arzt ab. Fast ausnahmslos gingen meine Kommilitonen in die Kliniken, um den Arztberuf in praxi zu erlernen. Ich aber beschloß, Theoretiker zu werden – besser gesagt: zu bleiben. Denn im Praktischen Jahr, mal wieder etwas spät, war mir klargeworden, daß die Medizin, so faszinierend ihr Wissen und ihr Charisma auch ist, im Vollzug mich doch nicht würde ausfüllen können. Ich erkannte, daß meine Bedürfnisse an das Leben andere waren als das (damals noch) hohe Einkommen des Arztes und sein hohes soziales Prestige. Der niedergelassene Arzt erschien mir schon 1980 als Klein-Unternehmer, der ich nicht sein wollte. Viel später hörte ich dafür den Begriff „Freiberufler“, als ich selbst einer wurde – nur anders eben.

Die medizinische Doktor-Arbeit schob ich aber doch noch nach. Ebenso die philosophische. Innerhalb eines Monats im Jahr 1986 bekam ich beide Urkunden. Allen studierten Fächern blieb ich in den Folgejahren treu, teils beruflich in theoretischer Weise, nämlich schreibend, teils in meiner Haltung zum Berufsleben und zum Lebensgenuß. Ich vertrat die Ansicht, daß Erfolg und viel Geld zu haben für mich nicht ein Lebensziel sein dürfe, sondern nur ein Abfallprodukt meines Denkens und meiner Lebenseinstellung. Ich habe tatsächlich noch immer die hochmütige Vorstellung, daß der Denker nicht nur können sollte, was die anderen können, sondern daß er nach Erwerb dieses Wissens auch zwangsläufig besser ist als die anderen.

Ich habe auch für mich festgestellt, daß ein philosophisches Leben ein angst-freies und damit im eigentlichen Sinne erst freies Leben ist. Dieses Leben hat mir Höhen und Tiefen beschert: mal war ich reich, mal war ich arm, mal wurde ich hofiert, mal übersah man mich. Aber nie hatte ich das Gefühl, schwach zu sein, Zukunftsangst haben zu müssen oder nicht mehr weiterzuwissen. Viele Menschen finden diese Ruhe in der Religion. Ich fand sie im menschlichen Vorbild von Philosophen wie Sokrates, Cicero, Spinoza oder Kant, um nur einige zu nennen, und in manchen Betrachtungen der Philosophie zur menschlichen Lebenswelt, insbesondere der Stoa und des Existentialismus.

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Bürgerlichkeit

Das Medizinstudium – vor allem die Umsetzung in der freien Wildbahn eines Krankenhauses mit Hierarchie, Zeitknappheit, Schlafmangel und Kaffee-Delirien – machte mir erneut klar, daß ich ja eigentlich Philosoph sein wollte. Mittlerweile stand ich auch auf dem Standpunkt, daß Philosophen – „wirkliche Philosophen“ – an der Universität eigentlich nichts zu suchen haben.

(Das sage ich vielleicht nur, weil ich es so gemacht habe. Denn anfallsweise war ich doch auch neidisch auf die regelmäßigen und sogar ansehnlichen Gehälter und Ruhestandstantiemen der Universitätsgelehrten. Es scheint, als sei ich da doch etwas zerrissen. Christus wird sich gegen Ende seines Lebens sicher auch gefragt haben, ob er vom Ölberge nicht doch besser entwichen wäre, anstatt auf seine Häscher zu warten. Bei mir liegt der Fall allerdings umgekehrt: Ich bin aus der Universität entwichen und frage mich in – vor allem finanziell – schwachen Stunden, ob ich mich nicht doch besser an der Uni von Sitzungsterminen und Verwaltungskram hätte martern lassen sollen.

Trotzdem sage ich mir: Ein Philosoph gehört dahin, worüber er nachdenkt: Ins Leben. Genau da bin ich auch gelandet. Was will ich eigentlich? Im tiefsten Grunde bin ich doch auch stolz darauf, wie ich mein Leben ganz gut auf die Reihe gekriegt und mich von Fall zu Fall entschieden habe, insbesondere deshalb, weil ich vom Naturell her eher entscheidungsschwach bin. Oder vielleicht besser ausgedrückt: multipel entscheidungsfähig.

So war ich zum Beispiel schon deutlich über vierzig, als ich heiratete, und das vor allem deshalb, weil meine damalige im vierten Monat schwangere Freundin mir zwar – würde ich sagen – keinen Heiratsantrag, eher einen Heiratsvorschlag machte. Sie stand damals – ich weiß es noch genau – in einem gelben Bikini neben dem Schwimmbecken, in dem ich herumschwamm, und da habe ich „ja“ zu ihrem Vorschlag gesagt.

Ich wurde also ein Ehemann – und war es dann auch überrascht. Ich war aber auch ein bißchen stolz, weil ich mir das nicht zugetraut hätte. Doch damit nicht genug. Zusammen mit meinen beiden Kindern hatte ich schließlich eine regelrechte Familie, die ich sogar ernähren konnte.

Bis zur Scheidung nach zwölf Jahren und auch darüber hinaus verlief alles normal: mit mir als Philosophen an der Front des Lebens im zähen Nahkampf … Ich weiß nicht, ob es am Charakter liegt oder an der Philosophie, vielleicht an beidem, aber ich war ganz gut darin, mich nicht unterkriegen zu lassen.

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Meine Kinder

Bis ich meine eigenen Kinder bekam, fragte ich nichts nach Kindern. Ich war nicht gegen Kinder, aber ich mußte über vierzig Jahre alt werden, um zu bemerken, daß gesunde und vergnügte Kinder so mit das Schönste sind, was einem im Leben widerfahren kann.

Es gibt einen Spruch, von dem ich nicht weiß, wer ihn erstmals geschrieben hat. Er lautet ungefähr: „Ein Kind zu wollen bedeutet, sich dafür zu entscheiden, daß das eigene Herz zukünftig außerhalb des eigenen Körpers schlägt.“ Das stimmt. Aber als Spätzünder, der ich in vielen Dingen im Leben war, habe ich das erst ziemlich spät erkannt. Gott sei Dank nicht zu spät.

Es irritierte mich anfangs, daß mich der Umgang mit den Kindern weich machte, gewissermaßen sozial. Ich wurde langsam ein Mensch, der Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen versuchte, und ich begann die Eigenart anderer Menschen zu tolerieren, ja mit der Zeit sogar zu schätzen. Nicht, daß ich vorher rücksichtslos gewesen wäre, ich war einfach nur gedankenlos und mir selbst genug. Ich kam auch tatsächlich sehr gut mit mir aus, wollte niemand Böses, liebte die Freiheit, worunter ich nichts weiter verstand als Bindungslosigkeit und spontan sein zu können, und genoß das Leben. Da dieses Leben nicht nur aus essen, trinken und Frauen bestand, sondern auch und vor allem aus den Genüssen des Geistes, den Theorien der großen Denker und Täter, hielt ich mein Leben nicht für primitiv. Erst später, als meine Kinder schon 10/12 Jahre alt waren, merkte ich, daß dieses Leben bislang ein Rohbau war. Und nach und nach dämmerte mir, daß mein Seelenhaus zwar ungewöhnlich, damit aber auch unwohnlich war.

Als meine Ehe nach 12 Jahren scheiterte, empfand ich dies als ein persönliches Versagen. Denn ich wollte ihnen das bieten, was ich als Kind hatte: eine heile Welt. Stattdessen war es mir nicht gelungen, die Rahmenbedingungen dafür – sprich: meine Ehe – so zu gestalten, daß meine Kinder ihr Kindsein genießen konnten. Ich erkannte, daß es nicht reicht, eine Ehe nur zu „führen“ und sich mit seinen Gefühlen den Kindern zuzuwenden, um ihnen ein Heim, eine seelische Heimat, zu bieten. Sondern man sollte auch unermüdlich an den Rahmenbedingungen der Beziehung arbeiten. Meine Kinder hingen sehr an mir. Ihre Reaktionen auf die Trennung empfinde ich heute noch als das Schmerzlichste, was ich je erlebt habe.

Ich kam mir zeitweise vor wie in dem Brüder-Grimm-Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen. Denn, es mag komisch klingen, zum ersten Mal erlebte ich wirklich Angst: die Angst, durch die Scheidung meine Kinder zu verlieren. Nicht um meinetwillen, sondern weil ich ihnen noch soviel geben wollte, um ihnen ihren Lebensweg zu erleichtern.

Ich dachte viel an das chinesische Gleichnis 灰闌記 von Li Hsing-tao, das später die Schriftsteller Klabund und Brecht als „Kaukasischer Kreidekreis“ bekannt gemacht haben. Darin streiten zwei Frauen, welche von ihnen die wirkliche Mutter eines Kindes sei. Beide wollten es haben. Der Richter malte, als keine Einigung zu erzielen war, einen Kreis auf den Boden, stellte das Kind in den Kreis und jeder der Frauen sollte an einem Arm des Kindes ziehen. Die „wahre Mutter“, so der Richter, würde die Kraft haben, das Kind aus dem Kreis zu sich zu ziehen. Eine der Frauen ließ das Kind zweimal los, um ihm nicht wehzutun. Ihr sprach der Richter das Kind zu, weil es für eine wirkliche Mutter wichtiger sei, dem Kind nicht weh zu tun, anstatt es zu besitzen.
Nach diesem Motto handelte ich am Anfang der Trennung. Zunehmend kamen mir aber Bedenken. Das Gleichnis ist zwar ein beeindruckendes Lehrstück in Bezug auf richterliche Weisheit, doch nach den ersten Fehlschlägen im Sorgerechtsstreit um die Kinder wurde mir klar, daß mein Los-lassen von den Kindern als Ver-lassen empfunden werden konnte. Wenn ich die Geschichte des Kaukasischen Kreidekreises schreiben würde, dann würde ich da beginnen, wo sie mit einem Happyend aufhört. Ich würde den Richter als normalen Juristen darstellen, der derjenigen Mutter Glauben schenkt, die kühl taktierend, den Kindesunterhalt bereits fest in ihr Monatsbudget eingeplant und als Frau ohnehin im Besitz der besseren Karten, derjenigen das Kind abspricht, die nicht an ihm zieht. Und in meiner fiktiven Geschichte würden sich das Kind und die loßlassende Mutter wieder begegnen, und das Kind würde der Mutter Vorwürfe machen, daß sie es im Stich gelassen und nicht um es gekämpft hat. Denn um einen Menschen zu kämpfen, kann auch ein Zeichen von Liebe sein.

Seither lege ich allen Vätern nahe, in der Ehe mehr auf die Be-ziehung zu ihren Kindern zu achten als auf die Er-ziehung und daß es am Ende der Ehe ihre Pflicht ist, um ihre Kinder zu kämpfen. Kämpfen heißt, sich nicht zu begnügen, den Kindern alle zwei Wochen ein spezielles Unterhaltungsprogramm zu bieten, sondern als Vater an ihrem Leben teilzuhaben. Denn einen Vater zu haben ist ein Grundrecht der Kinder.

Ein Nachtrag

Nicht nur Kinder einer geschiedenen Ehe haben dieses Grundrecht, sondern selbst Kinder von einer nie geliebten Frau, die im Rausch des Augenblicks bei einer „schnellen Nummer“ schwanger wurde. Auch und gerade, wenn dieses Kind den Vater sein Leben lang an seine eigene „Dummheit“ erinnert und die Mutter sich um ihre Jugend und Leichtlebigkeit betrogen fühlt, hat das Kind, das so in die Welt gekommen ist, Vorrang, zumindest bis sein Ich und sein Eigensinn erwacht ist.
Das Kind ist unschuldig und darf nicht allein für einen unbedachten Augenblick der Eltern büßen müssen. Die Antwort auf ihren vielleicht einzigen gemeinsamen Augenblick in ihrem Leben wird ihnen zur Verantwortung. Jedes Kind hat das Recht, geliebt zu sein, und es ist gut, daß der Staat sich zum Anwalt des „Kindswohles“ macht. Nicht von ungefähr erhebt er das Recht des Kindes über das seiner Eltern und fordert zumindest den materiellen Teil dieses Rechtes für das Kind ein. Und der Staat sollte dabei nicht gnädig sein, denn der letzte, der an diesem „Schicksalsschlag“ leiden soll, ist das Kind. Wenn es trotzdem in die Obhut von Pflegeeltern gegeben werden muß, weil der Vater im Kind die Mutter verachtet und die Mutter im Kind den Vater haßt, so verwirken die Eltern ihr emotionales und ihr Umgangsrecht auf dieses Kind für alle Zeit. Die einzige Macht, dies zu revidieren, ist das Kind.

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Keine Uni-Laufbahn

Anfang der 70er Jahre waren die Chancen, als Professor eine Anstellung an der Universität zu bekommen, so groß wie nie zuvor. Die Zahl der Professoren stieg politisch gewollt sprunghaft an, verdoppelte sich fast. Dies geschah unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt.

Es ist für mich eine allgemeine Regel, daß solche politisch gewollten Erhöhungen der Mitarbeiterzahl immer und überall auch mit einem Verlust an Niveau und Arbeitseifer verbunden sind. So gab es plötzlich Angestellte mit Professorentitel, die man an der Universität nur selten sah und deren ein bis zwei Sprechstunden pro Woche auch oft noch ausfielen. Vom Charisma des Lehrkörpers rede ich erst gar nicht. Der von seiner Wissenschaft besessene Professorentyp, dem man einiges nachsagen mag, aber nicht, daß er faul war, wurde seltener. Das gilt insbesondere für die Geisteswissenschaften, in denen eine reale Leistung bzw. ihr Mangel schwerer zu erkennen ist als in den Natur- und Technikwissenschaften, in der Medizin, der Juristerei oder an der Musikhochschule.

Damals verlor ich meinen Glauben, daß man nur etwas zu leisten brauche, um seinen Berufsweg machen zu können. Mir wurde klar, daß man ohne Beziehungen/Schleimerei kaum einen Stich bei Postenvergaben bekommen kann. Das Problem war, daß mich das abstieß. An den Universitäten bekamen die neuen Zustände sogar eine offizielle ideologische Weihe, indem das Ende der „Leistungszentrierung“ eingeläutet wurde. Das einzige, was mir verläßlich erschien, meine eigene Leistungsfähigkeit, war plötzlich nichts mehr wert.

Beziehungen hatte ich natürlich auch: zur Freundin, zu den Sportkumpels, zu den Kommilitonen des näheren Umfeldes und natürlich zur Familie. So ver- , nein erlebte ich meine gesamte Studienzeit: auffällig fleißig, überschwenglich genießend und – naiv! Ich glaubte tatsächlich, daß irgendwann irgend jemand auf mich zukommen würde, der das Potential, das in mir steckte, erkennt und mir eine Chance gibt, mich zu beweisen, ohne daß ich mich anbiedern oder meine Denkweise verbiegen müßte. Doch so jemand kam nicht.

Bis heute zwickt mich die Überlegung, ob ich mich damals nicht besser etwas realistischer verhalten und gezielter eine Professur in Psychologie hätte anstreben sollen. Ich hätte dann das Problem nicht gehabt, daß ich bei fast allem, was ich veröffentlichte, nicht immer nebenher Geld hätte verdienen müssen. Wenn ich ein Buch las – und ich las viel – verdiente ich in der Zeit kein Geld, und wenn ich Geld verdiente, fehlte mir die Zeit zu lesen und dazu etwas zu schreiben. In einem akademischen Rang wäre beides ideal möglich gewesen. Vor allem in Zeiten, in denen ich weder Zeit noch Geld hatte, weil ich händeringend nach einer Arbeitsstelle „in der wirklichen Welt“ suchte, überkamen mich doch Zweifel, ob mein naives Agieren von damals nicht zu egozentrisch und in gewissem Sinne einfach meine eigene Lebensfehlentscheidung war. Der Philosoph Baruch Spinoza gab mir dann immer wieder Kraft, der als Glasschleifer gearbeitet und eine Philosophieprofessur der Universität Heidelberg abgelehnt hatte, weil er gedanklich unabhängig bleiben wollte. Ich fürchte sehr, daß ich diese Größe nicht besessen hätte, wenn man dieses Ansinnen an mich herangetragen hätte. Insofern spielt bei meiner kritischen Einstellung dem Gros der Geisteswissenschaftler gegenüber sicher auch ein unbestimmbares Quantum Neid und Ressentiment mit. Es ist eben nicht leicht, auf steinigem Weg und nicht nur im weichen Lesesessel seiner Bestimmung zu folgen. Wenigstens macht es stark – und selbstbewußt denen gegenüber, die den scharfen Wind existentieller Notlagen, der mir zeitweise ins Gesicht blies, nicht gespürt haben.

Denn so habe ich etwas kennengelernt, das ich in einer universitären Laufbahn nie gelernt hätte: das Leben. Und das „normale“ Leben bietet keine Sicherheit und noch weniger Freiräume für Reflexionen und gedankliches Innehalten. Ich lebte sozusagen auf Augenhöhe mit denen, die meine Visionen nie hatten und nie haben konnten. Ich sah hautnah die Armseligkeit und Bedauernswürdigkeit mancher Lebensläufe von Menschen, die sich in tatsächlichen oder vermeintlichen Zwängen bewegten. Ich lernte von Handwerkern und Frauen mit vielen Kindern mehr über das Leben als im ganzen Psychologiestudium. Der ganze akademische Betrieb erschien mir zunehmend als Metasprachcode-Fabrik für manchmal Banales, als eine zu Zahlen, wissenschaftlichen Floskeln und Modellrechnungen geronnene Verfremdung des Lebendigen.

Am schlimmsten erschien mir die Selbstbespiegelung der Wissenschaftlergemeinde. Ihre Mitglieder validieren ihr Tun an internen Zirkeln und nicht an der Außenwelt. Das machen übrigens auch Journalisten. Ich habe lernen müssen, wie schnell Dinge im Leben zu Ende sein können, wie man hinfallen und sich verdammt wehtun kann. Ich habe gesehen, wie ein Lastwagenfahrer einem Bettler aus seinem fahrenden Schwertransporter heraus zwei Euro auf den Gehweg geworfen hat – und verstand. Ich habe mit einer 86jährigen Frau gesprochen, die im Sterben lag und unter den Nebenwirkungen einer Chemotherapie litt, die man ihr aus welchen Gründen auch immer noch hineinpfefferte. Ich habe gelernt, mich in die Arbeit eines Finanzbeamten hineinzuversetzen und zu verstehen, daß man einen Feierabend herbeisehnen kann. Das war es überhaupt, weswegen sich mein Weg lohnte: Ich lernte hinzusehen und durch Erleben zu verstehen.

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Meine Titel

Meine Titel sind ein Abfallprodukt meines Wissensdurstes und meiner Begeisterung für die Wissenschaften. Außerdem schreibe ich gern, so daß es mir immer (mehr oder weniger) leicht fiel, das, was ich denke, zu schreiben. Durch das Schreiben diszipliniert man die Gedanken, die einem beim Plappern manchmal erst zufliegen.

So ergaben sich die beiden Doktortitel und das Diplom. Ich unterschlage meine Titel jedoch gern, weil mir der Besitz von zwei Doktortiteln – ich weiß auch nicht, warum – ein bißchen lächerlich erscheint. Drei Titel sind meiner Ansicht nach sogar verdächtig. Ich meine das im Ernst.

Der Vorteil von Titelbesitz besteht allerdings darin, daß einem Titel nicht mehr imponieren. Man schaut einfach, was jemand sagt, und nicht, wer es sagt. Man denkt nicht: Der musses ja wissen, der Herr Doktor oder Professor gar! Wer weiß, daß er nichts weiß, wie Sokrates gelehrt hat, der, gerade der, weiß auch mit Titeln, daß er nichts weiß. Wie heißt es bei Faust?

„Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!
Und ziehe schon an die zehen Jahr´
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum –
Und sehe, daß wir nichts wissen können!"

Das Herz hat sie mir nie verbrannt, diese Unmöglichkeit, letztes Wissen zu erlangen. Im Gegenteil: An diesem Punkt fängt – salopp gesagt – die Party erst an. Denn endgültiges Wissen stelle ich mir langweilig vor, und Menschen, die so tun, als hätten sie es, sind es tatsächlich. Eine gehobene Unwissenheit hingegen hat Charme. Man ist offen für Möglichkeiten, für Allesmögliche, wenn man so will. Klingt das nicht nach Freiheit? Nach dem, wie sich das Leben auf der Erde durch Zufall – also spielerisch – entwickelt hat? Nach Bälle jonglieren?

Doch Vorsicht! Unwissenheit heißt nicht, nichts wissen. Wer seine Zeit damit verbringt, sich entertainen zu lassen, ist irgendwann einfach nur leer im Kopf. So jemand steht außerhalb der sprachlichen Kategorien wissend-unwissend. Um solch einen unterhaltenen Menschen – im wunderbaren Doppelsinn des deutschen Wortes – zu umschreiben, fallen mir nur Begriffe ein, die wie Schimpfwörter klingen.

Unwissenheit ist auch keine Besserwisserei, die Lust empfindet an der schöngeistigen Demontage von allem und jedermann. Diesen Sophisten sei gesagt: Eine – man höre – wahre Unwissenheit ist keine Frage des Intellekts. Man muß zwar viel lesen, um diesen Grad der Unwissenheit zu erreichen, entscheidend dabei ist aber die innere Einstellung zu all dem Gewußten. Und diese hat viel mit Demut zu tun. Das gilt auch für den Fall, daß es nicht um Gotterkenntnis geht wie in der Schrift De docta ignorantia („Von der belehrten Unwissenheit“) des spätmittelalterlichen Theologen und Philosophen Nikolaus von Cues.

Sokrates, der im Verdacht steht, Analphabet gewesen zu sein, wußte also sicher mehr als manche Schmalsegment-Wissenschaftler und Quotenprofessorinnen. Er wußte, daß er nichts wußte, wohingegen allzu viele – durch Studium und Titel „Geleerte“ – nicht wissen, daß sie nichts wissen.

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Glück

Wenn mich jemand fragte, ob ich glücklich sei und zufrieden wie mein Leben verlaufen sei, dann würde ich sagen: ja. Wenn ich mir selbst die Frage stelle, würde ich das gleiche sagen und unterstreichen, also: Ja!

Denn mir ist klar, daß ich ein privilegiertes Leben führe, nämlich ein geistiges Leben. Deshalb habe ich keine Schwielen an den Händen, was zärtlichkeitsmäßig bei Frauen gut ankommt. Deshalb kann ich locker und belesen daherplaudern, was Männern schwerer fällt, die im Sommer die Autobahnen teeren und in Winternächten mit Schneeräum- und Streufahrzeugen unterwegs sind. Deshalb konnte ich oft eher ausschlafen, weil ich nicht nachts um drei aufstehen und Teig kneten und in Form bringen mußte, damit Brötchen entstehen.

Wenn ich dann aber innehalte, stelle ich fest, daß ein sogenanntes geistiges Leben – und nicht nur meines – vor allem ein Kreisen um sich selbst ist. Es sind die anderen, die alles am Laufen halten und nicht wir Privilegierte. Deshalb war und bin ich diesen Menschen dankbar und ohne jede Überheblichkeit, denn sie sind es, die es mir ermöglichen, mein Leben zu führen, wie es ist. Und ich hatte das Glück, eigentlich immer glücklich zu sein.

Das Schicksal machte es mir leicht, denn ich war immer weitgehend gesund, geradezu robust. Ich hatte und habe außerdem die natürliche Gabe, immer ziemlich schnell zu merken, worauf es in einer Situation ankommt, was sich vor allem beruflich positiv auswirkt. Ferner hatte ich die nötige Impulsivität, mich nicht zu ducken, wenn eine Situation ernst wurde, das heißt, ich war nie ängstlich. Angst kann ein Gefängnis sein. Daß es das Leben gut mit mir meint, wurde mir zur Selbstverständlichkeit. Ist das kein Glück?

Ich hatte vor allem das Glück, nicht nur Glück zu haben, sondern genau das auch festzustellen. Es gibt Menschen, die Unglücklichen, die haben zwar Glück, merken es aber nicht. Selbst wenn sie Bundeskanzlerkandidat wären, würden sie ihr Gehalt eher mit dem der Bankräuber in Nadelstreifen vergleichen, anstatt mit dem von Briefträgern und Krankenschwestern. Dabei ist es so leicht, glücklich zu sein, wenn man zu denen schaut, denen es schlechter geht – und man sich nicht durch deren Elend die Stimmung versauen läßt. So etwa würde ich Glücklichsein definieren. Das hat zwar einen etwas unsozialen Beigeschmack, ist aber so.

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Sterblichkeit

Ich erinnere mich genau. Als ich irgendwo zwischen 4 und 7 Jahren alt war, war ich überzeugt, nie zu sterben. Daß andere Menschen, vor allem alte Leute sterben, mochte ja angehen, aber ich …? Ausgeschlossen! Undenkbar! Selbst wenn der Tod ein unabänderliches Schicksal sein sollte: Ich war die Ausnahme.

In meinen Jugendjahren dachte ich überhaupt nicht mehr an den Tod. Nicht einmal in diesem optimistischen Sinne. Er interessierte mich einfach nicht. "Später vielleicht", dachte ich wohl, während ich nicht dachte. Das Leben war spannend und abwechslungsreich, der Tod – oder gar an ihn zu denken – war langweilig. Das vielleicht treffendere Wort „uncool“ gab es damals noch nicht.

Wieder nur kurz darauf hatte ich ebenfalls keine Zeit, an meinen Tod zu denken. Ich war einfach viel zu beschäftigt – Sex, Karriere, Kinder –, um mich mit hypothetischen Fragen herumzuschlagen. Ich will es so ausdrücken: Er fehlte mir nicht. Es gab Besseres zu tun, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Bis mir eines Tages auffiel, daß mir während meines Lebensgenusses die Zukunft ausgegangen war. Plötzlich und unerwartet hatte ich – mit viel Glück! – allenfalls noch etwa 15, 20 geistig wache Jahre vor mir. Ich bin also knapp in der Zeit, all das noch zu tun, was mir am Herzen liegt. Es ist mit der Zeit wie mit allem: Je mehr wir davon haben, desto weniger ist sie uns wert. Je weniger wir davon haben, desto mehr gewinnt sie an Wert.

Die neue Art des Zeitmangels führte dazu, mich nach „etwas Sinnvollem“ umzusehen. Der Zufall kam mir zu Hilfe. In einer Zeitschrift las ich, daß in Frankfurt ein Hospiz, eine Art Pflegeheim für Sterbende, eröffnet werden sollte. Gesucht wurden ehrenamtliche Mitarbeiter. Ich entschloß mich, dieser Tätigkeit drei Wochenstunden meiner knappen Zeit zu opfern, jeden Freitag morgen von 8 bis 11 Uhr.

Ich habe in meinem Leben nur wenig getan, was mir so wichtig wurde. Woher diese Empfindung kommt, kann ich nicht sagen. Allen meinen ehrenamtlichen Kollegen ging es jedoch ebenso. Obwohl meist gut dotiert, hatte ich in meinen verschiedenen Berufen nie auch nur vergleichbar das gleiche Gefühl existentieller Wichtigkeit. So lernte ich den Unterschied kennen zwischen dem Erfolg und dem Sinn einer Tätigkeit. Und ich erkannte das Paradoxon, daß der Tod um so mehr von seinem Schrecken verliert, je mehr man damit zu tun hat.

Ein kleines Erfolgserlebnis konnte ich mir darüber hinaus aber doch nicht verkneifen. Aus der Hospizarbeit und späteren Anstellungen in zwei Zentren für Krebskranke erwuchs ein Buch. Mein Wunschtitel war: „Annäherungen an das Undenkbare. Zur Psychologie des Todes“. Leider hat der Verlag den Titel „moderner“, „knackiger“ gemacht. Jetzt heißt es: „Zumutung Tod“. Nun ja, der ursprüngliche Titel wurde wenigstens zum Untertitel. Vielleicht ist das letzten Endes auch egal. Soviel müßte ich im Hospiz doch wenigstens gelernt haben?

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Hüttenzauber

Mein Hang zum Selbstversuch zeigte sich schon inmitten meines Psychologie-Studiums bei meiner Heuer 1970 auf einem Frachtschiff. 1981 stach mich wieder der Hafer.

Ausgangspunkt war, daß ich nun auch mein Medizin-Studium abgeschlossen hatte, und übriggeblieben war jetzt nur noch das Studienfach, mit dem ich meine Studienzeit begonnen hatte: Philosophie. Nun, nachdem die Last der Broterwerbsstudien von mir abgefallen war, stellte sich aber heraus, daß ich keineswegs zu einer philosophischen Lebensweise fand. Neben Wein, Weib und Gesang ließ ich mich von einer Art Freiheitsgefühl einnehmen. Mit anderen Worten: Ich lebte in den Tag hinein. Finanziell hielten mich das Promotionsstipendium, der Psychologie-Unterricht an vier Hamburger Krankenhäusern und über die Jahre insgesamt 17 Lehraufträge für Medizin-Studenten zum Thema "Sterben im Krankenhaus" recht hoch über Wasser.

Es keimte deshalb der Verdacht in mir auf, daß ich die ganze „action“ in meinem Alltag nur deshalb inszeniere, weil ich ein ruhiges Leben, trotz meines vorgeschobenen Gejammeres über das ständig klingelnde Telefon, gar nicht aushalten würde. In meinem Hirn formte sich die Hypothese, daß mir in wirklicher Ruhe die Decke auf den Kopf fallen oder es mir langweilig werden würde. Wenn möglich könnte ich sogar in eine Depression verfallen, weil ich meine hypothetische innere Leere nicht mehr durch Umtriebigkeit kompensieren könnte? Was lag da näher als mangels Wüste in irgendeine einsame Waldhütte zu gehen und es dort in völliger Abgeschiedenheit ein paar Wochen auszuhalten.

Wie ich meine Hütte fand, ist eine eigene Geschichte. Jedenfalls hatte ich wieder einmal Mordsglück. Ich fand sie schließlich in der Schweiz im Kanton Graubünden. Sie lag an einem Berghang auf einer Lichtung mitten im Wald, ohne Strom, ohne fließend Wasser, eine Wohnstube mit Kohleofen, darüber ein Schlafzimmer, in dem ich wegen der niedrigen Decke nicht aufrecht stehen konnte, ein „Vorhaus“, das als Küche diente, mit einem zweiflammigen Butangaskocher auf einem Tischchen. Wasser holte ich direkt von der Quelle am Haus, das Plumpsklo war naturgemäß unbeheizt, und für die Dunkelheit gab es eine Petroleumlampe. Gewappnet war ich mit Büchern, Papier und Reiseschreibmaschine. Meine erste Lernerfahrung auf der Hütte war, daß Mäuse Seife fressen.

Zur Hütte führte ein Holzfällerweg, so daß ich mit meinem alten VW-Käfer ziemlich nah heranfahren konnte. Auf den Wanderkarten war der Weg nicht verzeichnet. Es kam also kein Mensch vorbei, bis auf einige, die sich verlaufen hatten. Der nächste Hof, der von einem alleinstehenden Bergbauern bewirtschaftet wurde, lag etwa eineinhalb Kilometer entfernt, das nächste Örtchen, das aus wenigen Häusern, einer Bahn-Post-Station und einer Wirtschaft bestand, lag etwa drei Kilometer von der Hütte entfernt und zum nächsten richtigen Ort, nach Arosa, mußte ich acht Kilometer bergauf fahren. Dorthin fuhr ich alle paar Tage, um mir im Schwimmbad eines Hotels den Schweiß vom Sägen und Holzhacken herunterzuwaschen und Lebensmittel einzukaufen. Wie geplant blieb ich auf den Tag genau sechseinhalb Wochen in der Hütte. Ich ließ mir einen Stoppelbart wachsen, den ich bis heute, inzwischen ergraut, behalten habe.

Was habe ich gelernt?

Meine ursprüngliche Hypothese konnte falsifiziert werden. Ich genoß die Ruhe, konnte mich hervorragend konzentrieren und schreiben und stellte fest, daß Einsamkeit kolossal unterhaltend sein kann. Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich die Natur bewußt wahr. Ich beachtete die Wolken, den Tageslauf mit seinen verschiedenen Helligkeitsgraden und Schattenbildungen, den Wechsel der Gräser und Blumen auf der Lichtung, die ganz eigene Stimmung der Nächte.

In der Anfangszeit, wenn ich mir bei Nacht an der Quelle die Zähne putzte, mußte ich mich des Impulses erwehren, mich immer wieder einmal umzusehen, als ob eine Gefahr von hinten auf mich zu kommen könnte. Ich führte das auf mein Stammhirn zurück mit seinen phylogenetischen Engrammen aus Zeiten, in denen sich Säbelzahntiger anschlichen oder keulenschwingende Nebenbuhler. Ich lernte, daß man durch einen gedanklich beruhigenden Gegenwartsbezug seinen Engrammen widerstehen und daß man auch sein Stammhirn rasch an das 20ste Jahrhundert gewöhnen kann.

Bald lief mir dann aber doch eine wildlebende schöne schwarze Kätzin zu, die unter den Mäusen aufräumte. Sie legte ihre Beute oft stolz vor mich hin und verzehrte sie vor meinen Augen, wobei mich zwei Dinge beeindruckten. Das war die Geschicklichkeit, mit der sie die Leber samt der bitteren Gallenblase aussparte, und es war vor allem dieses absolute Verschwinden eines Lebewesens aus der Welt durch vollständige Inkorporation. Trotz einschlägiger Tierfilme zur Kinderstundenzeit, in denen vor allem Jungtiere diesem Schicksal anheimfallen, war diese offensichtliche Tatsache nie bis zu meinem Bewußtsein wirklich vorgedrungen, wahrscheinlich deshalb, weil immer noch ein paar Knochen und Gedärme übrig blieben, eine Maus verschwindet aber praktisch ganz in der Katze.

Mit dem Bergbauern freundete ich mich an, in der Wirtschaft, der ich hin und wieder nicht widerstehen konnte und wo ich schließlich „der Philosoph aus dem Prätschwald“ genannt wurde, hörte ich, was in aller Welt geschah – von einem Karussell-Unfall auf dem Hamburger Dom erfuhr ich schon am nächsten Tag – und an der Rezeption des Hotels, wo ich mir die Sägespäne vom Leib wusch, arbeitete ein Schwizermaidli, Roswitha, die mich wegen meines Aufzuges für einen Bauarbeiter gehalten hatte. Sie versüßte mir meine letzten Hüttenwochen mit ihrer Anwesenheit und besuchte mich später in Hamburg.

Durch diese Entwicklung wurde mir klar, daß jeder Mensch sein Schicksal in seinem Wesen mit sich herumträgt. Geradezu leibnah erfuhr ich, daß ich als geselliger Mensch die Einsamkeit mit meiner Wesensart gewissermaßen kontaminierte. Ich erkannte, daß der gesellige Philosoph, der in die Wüste geht, niemals einsam ist. Er wird sich mit den Beduinen anfreunden, vielleicht mit Kochrezepten für Heuschrecken experimentieren und über den Sand nachdenken. Andererseits kann ich mir jetzt auch erklären, wenn sich zurückhaltende Menschen selbst mitten in der Stadt einsam fühlen – vielleicht gerade da.

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